Mit den expressiv gefalteten Fassaden und der kantig-gläsernen Dachlandschaft bringt das Dorotheen-Quartier eine völlig neue Ästhetik in die Stuttgarter City. Behnisch Architekten ging es aber auch um die urbane Einbindung der Luxusmeile.

Stuttgart - Wir wollen Weltstadt sein, dann müssen wir uns auch so verhalten!“, so hatte Willem van Agtmael, der damalige Chef des Kaufhauses Breuninger, 2007 die ersten Pläne für das neue Quartier zwischen dem Stuttgarter Marktplatz und dem Karlsplatz vorgestellt. Als dann im Juli 2008 die ersten Zeichnungen für das sogenannte Da-Vinci-Projekt präsentiert wurden, mussten die Noch-Nicht-Weltstädter genau hinsehen: Das Amsterdamer Büro UN Studio, den Stuttgartern durch den Bau des Mercedes-Benz-Museums bekannt, hatte ein auf zwei mächtige städtische Blöcke verteiltes, dynamisch abgeschrägtes, in Richtung Charlottenplatz steil aufragendes Ensemble entworfen, das mit seiner futuristisch-expressiven Architektur für viele wie ein überdimensionales Ausrufezeichen wirkte.

 

Mit seiner schieren Größe stellte das geplante Luxusquartier die Maßstäblichkeit an diesem Ort infrage. Selbst der überaus robuste Betonbrutalismus der Kaufhausfassade von Breuninger aus den sechziger Jahren hatte diesem selbstbewussten Neubau nichts entgegenzusetzen. „Was machen wir nur mit der Stadt?“, fragten sich Skeptiker angesichts dieses Vorhabens.

Elf international renommierte Büros beteiligten sich am Architektenwettbewerb

Doch noch war nichts entschieden. Ein Architektenwettbewerb mit elf international renommierten Teilnehmern wurde für das „Quartier am Karlsplatz“ ausgelobt. Und obwohl UN Studio auch hier einen Entwurf einreichte, errang das Stuttgarter Büro Behnisch Architekten im März 2010 den ersten Preis. Zunächst folgten die Wettbewerbssieger noch der Gliederung auf lediglich zwei städtische Blöcke, und auch das vorgesehene Fünfsternehotel blieb im Quartiersportfolio erhalten. Während jedoch das Land Baden-Württemberg in einer ersten Phase noch an diesem Bauvorhaben beteiligt war, plante Breuninger ab 2011 allein. Vor allem über das zwischen 1937 und 1945 als Gestapo-Zentrale genutzte Hotel Silber in der Dorotheenstraße, das in der ursprünglichen Planung abgerissen werden sollte, wurde noch im selben Jahr heftig diskutiert. Statt für eine Einbindung als Gedenkstätte entschieden sich Stadt und Land dann für den Erhalt des 1944 teilweise zerstörten Gebäudes.

Jetzt erst wurde das eigentliche Dorotheen-Quartier geboren. Und um es vorwegzunehmen: Diese schwierige Geburt hat dem neuen Quartier ganz gut getan. Nicht nur, weil das Hotel Silber als Gedenkstätte erhalten werden konnte, sondern auch, weil das Überdenken des Entwurfs zu einer spürbaren Annäherung an die Maßstäblichkeit der Stadt, ihren vorhandenen Räumen und Dimensionen führte.

Noch mischen sich Handwerker unter die Flaneure

Wer sich jetzt aufmacht, um in den neuen Luxusgeschäften einzukaufen, wird schnell bemerken, dass sich noch zahlreiche Handwerker unter die Schau- und Kauflustigen mischen, dass noch an vielen Stellen emsig gearbeitet wird. Doch diese Unruhe hat durchaus etwas Belebendes für den Auftakt der Stuttgarter Luxusmeile. Vieles lässt sich ja schon jetzt – auch ohne Louis Vuitton und Tesla – ablesen: Auf die zentrale Frage, wie hier ein Stück Stadt entstehen kann, haben die Architekten mit ihren drei Häusern eine sehr eigenständige Antwort gegeben. Die bisher eher abweisende und als Rückseite empfundene Breuninger-Fassade zum Karlsplatz werteten sie auf, ergänzten sie im Erdgeschoss mit neuen Anbauten, die sich mit geschwungenen Dächern zur Stadt öffnen. Damit rückt der Altbau deutlich näher an die Neubauten heran, Innen und Außen werden neu gedacht, das Visavis wird erlebbar. „Wir wollten keine Shoppingmall bauen, die sich nur auf sich selbst bezieht, wir wollten ein Stück Stadt schaffen, in dem man sich wohlfühlt“, sagt Stefan Behnisch. Besonders wichtig ist dabei die aufgeweitete Sporerstraße, die über die Münzstraße hinweg zum Vorbereich der Markthalle erweitert wurde. Als eine der wenigen belebten Querspangen Stuttgarts bringt sie die gewünschte Urbanität an diesen Ort. Schade nur, dass dieser neue Stadtraum direkt vor der Holzstraße sein abruptes Ende findet.

Nähert man sich den drei asymmetrisch geformten Neubauten, wird man zunächst auf die schräg geschnittenen Leibungen der vorgehängten Kalksteinfassaden aufmerksam, die im Wechsel mit den stark gefalteten Aluminiumfassaden ein plastisch-modelliertes Bild des gesamten Quartiers zeichnen. Ihr freies Spiel gegen die strenge Vertikale findet seine Fortsetzung bei den anthrazitfarbenen Fensterprofilen. Und was verbirgt sich hinter den Fassaden? Unten ein etwa 4,5 Meter hohes Erdgeschoss mit großformatigen Glasflächen für die Geschäfte und die Gastronomie, darüber klassisch organisierte Büroetagen, in denen sich auch die Landesministerien befinden, sowie 19 exklusive Wohnungen.

Eine neue Ästhetik für die Stadt

Doch wo sind die eigentlich? Beim steilen Blick nach oben erscheint diese kantig-gläserne Dachlandschaft als beinahe surrealer, entmaterialisierter Körper. Die großflächig mit Folie bedruckten Glasflächen, die sich mit den Grau- und Blautönen des Himmels vermischen, bringen eine vollkommen neue Ästhetik in die Stadt, rufen Irritationen hervor. An machen Stellen besitzen die steil geneigten Dachflächen sogar nahezu die gleiche Höhe wie die darunter liegenden Vollgeschosse. Die Maßstäblichkeit, die über die Vorgabe der rund zwanzig Meter hohen Traufkante spürbar werden sollte, wird dadurch deutlich infrage gestellt, die Proportionen zwischen Haus und Dach wirken fremd.

Für Stefan Behnisch ist jedoch das Dach als „fünfte Fassade“ entscheidend: „In New York schaut niemand auf die Dächer, in Stuttgart schon“, hebt er hervor. Gerade beim Blick aus der Halbhöhenlage erinnert man sich an diesen Satz: Dann kehrt sich die Präsenz der Dächer plötzlich um. Von oben zeigen sie ihre wahre Größe, Körperhaftigkeit und Dominanz.

Bezug zum Stuttgarter „Nachkriegs-Expressionismus“ der 50er und 60er Jahre

Die Sprache, die Behnisch Architekten für ihre Neubauten wählten, setzt sich dezidiert vom sachlich-nüchternen Formenkanon der Weißenhof-Moderne ab – den Geist des Ortes fanden sie vor allem im Stuttgarter „Nachkriegs-Expressionismus“ der fünfziger und sechziger Jahre: Rolf Gutbrods BW-Bank am Kleinen Schlossplatz und dessen Hahn-Hochhaus an der Friedrichstraße. Durch die bis zu 34 Meter hohen Häuser entlang der schmalen Straßenräume entsteht freilich eine Dichte, die das Dorotheen-Quartier merklich von Gutbrods Bauten unterscheidet.

Doch ohne Frage haben Behnisch Architekten mit ihren Neubauten, deren Figur den historischen Stadtplan nachzeichnet, einen wichtigen Beitrag geleistet, wie Architektur und Kommerz zusammenfinden und dabei einen öffentlichen Raum schaffen können. Damit geben sie der Stadt etwas Entscheidendes zurück und zeigen, dass dies – anders als bei den auf sich bezogenen Shoppingmalls Milaneo oder Gerber – möglich ist. Ob Stuttgart dieses mehr als 200 Millionen Euro teure Luxusquartier tatsächlich braucht, ob es damit Weltstadt wird, muss sich noch zeigen. Sicher ist hingegen, dass das Dorotheen-Quartier exklusiv bleiben wird. Seine Klientel wird nur ein Ausschnitt des urbanen Lebens sein.