Im Streit um das Neubaugebiet Am Graben plädiert Fachmann Stefan Flaig für eine besser Vermittlung von Bestandsbauten.

 
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Weissach - Der Bürgerentscheid, mit dem in Weissach am Tag der Bundestagswahl am 26. September darüber abgestimmt werden soll, ob das 7,5 Hektar große Gebiet Am Graben als Neubaugebiet ausgewiesen werden darf oder nicht, rückt immer näher. In der Frage ist die Heckengäugemeinde inzwischen tief gespalten.

Während die Befürworter betonen, dass das Areal in der Größe von zehn Fußballfeldern für lange Zeit die letzte Möglichkeit darstellt, in Weissach im großen Stil Wohnraum zu schaffen, weisen die Gegner bisher vor allem auf die gravierenden ökologischen Folgen eines Neubaugebiets hin.

Ist ein Neubaugebiet noch zeitgemäß?

Aber nicht nur: Zunehmend rückt ins Zentrum der Diskussion, in welcher Weise sich angesichts des demografischen Wandels künftig die Nachfrage nach Wohnraum entwickeln wird und ob ein Neubaugebiet vor diesem Hintergrund überhaupt noch zeitgemäß ist. Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, hat die Ortsgruppe des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), die den Bürgerentscheid auf den Weg brachte, einen Experten für Siedlungsentwicklung in die Alte Strickfabrik eingeladen.

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Dass der Geschäftsführer des Stuttgarter Beratungsunternehmens Ökokonsult, Stefan Flaig, kein Befürworter des Bauens auf der grünen Wiese sein würde, war deshalb von vornherein abzusehen. Gleichwohl ließen die Argumente, die der Geograf am Dienstagabend gegen die Ausweisung von Neubaugebieten ins Feld führte, viele Besucher der Vortragsveranstaltung aufhorchen.

Warum werden mehr Wohnhäuser frei?

Die zentralen Aussage des 61-jährigen Siedlungsexperten: Praktisch jede Gemeinde in Baden-Württemberg habe künftig mehr als ausreichend Möglichkeiten, im Innenbereich Angebote zum Kauf von Bestandsbauten oder auch Raum für Neubauten zu schaffen. Der Grund: Die Altersentwicklung der Gesellschaft sorge dafür, dass künftig immer mehr bestehende Wohnhäuser frei würden. Gleichzeitig sei es aus demselben Grund „unausweichlich, dass es in Zukunft immer weniger junge Familien geben wird“, erklärte Flaig. Theoretisch werde also das Angebot an Wohnraum für Familien in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ganz von allein immer größer, die Nachfrage aber immer geringer.

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2014 erhobene Zahlen belegten schon damals für Weissach, so Flaig, dass von 2143 Wohngebäuden 137 leer standen. „Das allein waren also bereits über 200 Wohneinheiten für junge Familien.“ Hinzu komme: Zur selben Zeit waren in 285 Ein- und Zweifamilienhäusern die jüngsten Bewohner über 70 Jahre alt. „Auch diese Gebäude werden also innerhalb der nächsten 15 bis 20 Jahre leer stehen, wenn sie nicht wiederbelegt werden“, argumentierte Flaig.

Warum sind viele freie Immobilien gar nicht auf dem Markt?

Die Krux: Wegen des niedrigen Zinsniveaus kommt das Gros der frei werdenden Häuser erst gar nicht auf den Markt, was die steigenden Immobilienpreise erkläre. Und die ältere Bewohner in ihren zu groß gewordenen Häusern bekämen keine attraktiven Angebote vor Ort, um umzuziehen. „Dabei belegen Umfragen in Projektgemeinden, dass die Senioren sich häufig schwer tun mit ihren zu großen Familienwohnungen und gerne eine altersgerechte Wohnung hätten“, sagte der Referent.

Mehr Angebote für Ältere schaffen

Nach Ansicht des Fachmanns müssten für eine sinnvoll Siedlungspolitik Kommunen deshalb bei ihren Planungen vor allem nach den Zielgruppen differenzieren. Soll heißen: Angesichts einer zunehmend alternden Bevölkerung für ausreichend altersgerechte Wohnungen sorgen sowie für all die, die sich Bestandsimmobilien oder -grundstücke nicht leisten könnten, günstigen Wohnraum schaffen. Altersgerechte Wohnformen seien aber nie in Neubaugebieten an Ortsrändern angesiedelt, sondern dort „wo man einkaufen kann, der Bus fährt und die Ärzte sind“.

Erschwerend hinzukomme, dass Leerstand nach Ansicht des Experten „asozial ist“. Wo immer Häuser verwahrlosen, sinke demnach auch die Lebensqualität für die verbliebenen Bewohner. Der Experte rät deshalb, dass Kommunen im eigenen Interesse Strukturen aufbauen sollten, die die Nachfrage auf den Bestand lenke. „Das aber ist aufwendig“, räumt der Fachmann ein. Flaig mutmaßt, dass Städte und Gemeinden aus diesem Grund dazu tendierten, Neubaugebiete auszuweisen.

Ist Weissach für junge Familien attraktiv?

In der im Anschluss an den gut besuchten Vortrag mitunter hitzig geführten Diskussion betonte ein Zuhörer, dass die potenziell im Bestand zur Verfügung stehenden Bauplätze und Immobilien gerade für junge Familien häufig zu teuer seien: „Wenn aber die Gemeinde selbst entwickelt wie Am Graben, kann die Kommune dies quasi zum halben Preis anbieten.“ Ein Pluspunkt für das Neubaugebiet.

Ein junger Vater, der mit seiner Familie in Weissach in beengten Wohnverhältnissen lebt, widersprach der Einschätzung Flaigs, dass mehr attraktiver Wohnraum nicht gleichbedeutend sei mit einem Zuwachs an Kindern: „Unser Wohnraumangebot lässt es schlichtweg nicht zu, dass wir derzeit ein weiteres Kind bekommen.“

Der Mann sieht außerdem Weissach und das Umland in einer Sonderstellung, weil die großen Arbeitgeber in der Region sehrwohl für eine große Nachfrage unter jungen Familien sorgten. Dem steht entgegen, dass Weissach im Regionalplan als Ort mit Eigenentwicklung ausgewiesen ist.