Der Boßlertunnel ist fertig, es stellt sich die Frage, wie die neue Strecke nach Ulm auch ohne Stuttgart 21 in Betrieb gehen kann. Das Land drängt.

Stadtentwicklung/Infrastruktur : Christian Milankovic (mil)

Stuttgart - Wenn sich am Freitag die Tunnelbohrmaschine Käthchen die letzten Zentimeter durch die Alb fräst, wird das ein Balanceakt. Der Koloss kommt an einem steilen Hang 80 Meter oberhalb des Filstals bei Mühlhausen im Täle (Kreis Göppingen) wieder ans Tageslicht und stellt damit Deutschlands fünftlängsten Bahntunnel fertig. Der versammelten Prominenz, darunter Bahninfrastukturvorstand Ronald Pofalla und Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne), bleibt wenig Platz. Auf der einen Seite ragt die Alb auf, auf der anderen Seite geht’s steil hinunter zur Fils. Aber knifflige Situationen gehören für die Verantwortlichen dazu, wenn es um das Bahnprojekt Stuttgart-Ulm geht, zu dem Stuttgart 21 und die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm gehören.

 

Der nun fertig gestellte Boßlertunnel ist mit seinen rund 8,8 Kilometern die längste Röhre an der Strecke zwischen Wendlingen (Kreis Esslingen) und Ulm, die Spitzengeschwindigkeiten von 250 Kilometer in der Stunde zulässt und im Verbund mit Stuttgart 21 die Fahrzeit nach Ulm von heute 55 auf 30 Minuten drücken soll. Nicht ganz so rasant sind die Bauarbeiter unterwegs. Mittlerweile soll es 2025 werden, bis die ersten Züge durch den umgestalteten Bahnknoten in Stuttgart rollen. Die flotte, rund 60 Kilometer lange Strecke nach Ulm allerdings wird wohl 2022 fertig, ein Jahr später als ursprünglich geplant, aber eben immer noch drei Jahre bevor auch in Stuttgart die Signale auf Grün springen.Da es kaum vermittelbar sein dürfte, eine neue Infrastruktur, die nach heutigen Stand mehr als 3,7 Milliarden Euro kosten wird, drei Jahre brach liegen zu lassen, prüft die Bahn – auch auf Betreiben des Landes als Mitfinanzier der Strecke – die Möglichkeit, auch ohne Inbetriebnahme des Durchgangsbahnhofs in der Landeshauptstadt, Züge über den Abschnitt zwischen Wendlingen und Ulm zu schicken. Und der Druck auf die Bahn wird durch die Feier am Freitag nochmals etwas größer. Denn mit Käthchens Durchbruch sind acht der neun Tunnel zwischen dem Neckar- und dem Donautal im Rohbau fertig. Im Oktober dieses Jahres sollen die Experten für die Bahntechnik anrücken. Dann entsteht die nötige Infrastruktur aus Gleisen, Stromleitungen und Sicherheitstechnik. Eine fertiggestellte Strecke ungenutzt zu lassen, ist auch technisch nicht so einfach möglich. So fährt die Bahn regelmäßig den neuen Bahnhof am noch nicht fertiggestellten Berliner Großflughafen BER an, um die Technik in Schuss zu halten.

Verkehrsminister plädiert für die vorzeitige Inbetriebnahme

Solche Geisterzüge will man im Südwesten jedoch nicht. „Die Möglichkeit einer vorzeitigen Inbetriebnahme der Neubaustrecke von Ende 2022 an wird von uns grundsätzlich begrüßt“, sagt Hermanns Sprecher Edgar Neumann. Aber: „Die DB hat dem Verkehrsministerium immer noch keine Ergebnisse ihrer Untersuchungen vorgestellt.“ Das könnte auch daran liegen, dass die Lösung nicht ganz trivial ist und die Bahn sich mit hausgemachten Herausforderungen konfrontiert sieht. Der Anschluss an die bestehende Strecke Plochingen-Tübingen bei Wendlingen sollte eigentlich nur von Güterzügen genutzt werden, von denen Projektkritiker sagen, dass sie ohnehin nie fahren werden. Diese Verbindungsstrecke ist nur eingleisig geplant. Durch eine im Jahr 2015 genehmigte Umplanung verlängert sich dieses Nadelöhr um gut acht Kilometer. Für das Land ist klar, dass diese Kalamitäten nicht zu Lasten des bestehenden Schienenverkehrs gehen dürfen. „Derzeit prüft die Deutsche Bahn die betrieblichen Möglichkeiten, Züge über die eingleisige Güterzugkurve zu führen. Dabei darf weder der Regional- und S-Bahnverkehr auf der Neckartalbahn noch der Bau der großen Wendlinger Kurve beeinträchtigt werden“, sagt Neumann. Mit letzterer soll die Verbindung Richtung Reutlingen und Tübingen gestärkt werden. Eine Finanzierungsvereinbarung für diese ursprünglich nicht vorgesehene Lösung steht noch aus.

Auf der bestehenden Strecke von Plochingen nach Tübingen, von der aus es auf die neue Trasse geht, sind neben zahlreichen Regionalzügen auch die S-Bahnen der Linie 1 unterwegs. In der Vergangenheit hatte der Verband Region Stuttgart immer wieder darauf hingewiesen, dass eine vorzeitige Inbetriebnahme der Neubaustrecke keinesfalls zu Lasten des S-Bahn-Taktes gehen dürfe.Die Deutsche Bahn zeigt sich vorsichtig optimistisch. „Auf der Basis des Jahresfahrplanes 2018 haben wir eine erste Grobprüfung im Abschnitt Stuttgart-München vorgenommen. Im Ergebnis wäre unter bestimmten Prämissen ein Interimsfahrplan bis zur Inbetriebnahme von S 21 durchaus möglich“, erklärt ein Sprecher der für den Bau zuständigen Bahnprojektgesellschaft Stuttgart-Ulm (PSU) auf Anfrage. Allerdings sieht die Bahn nach ihrer Untersuchung Redebedarf mit den Bundesländern Baden-Württemberg und Bayern, die jeweils den Nahverkehr bestellen und bezahlen. Es sei „schon jetzt absehbar, dass dies mit umfangreichen Auswirkungen auf den Schienenpersonennahverkehr in Baden-Württemberg und Bayern verbunden sein wird, die ausführlich mit den Aufgabenträgern erörtert und abgestimmt werden müssen“, erläutert der PSU-Sprecher.

Bahn sieht Redebedarf