Sie kennen sich gearde ein paar Proben, aber schon spielen das SWR-Symphonieorchester und der neue Chefdirigent Teodor Currentzis, als ob sie schon lange befreundet wäre.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Bleibe bei uns, denn es will Abend werden“, sagen die beiden Männer zu dem Fremden, der ihnen auf dem Weg von Jerusalem nach Emmaus die Schrift ausgelegt hat. Dann setzen sie sich gemeinsam hin. Er bricht das Brot, spricht das Segensgebet. Da erkennen sie ihn: Jesus Christus, auferstanden von den Toten. Der Messias. Und schon ist er verschwunden. So steht es, fast lakonisch, im Lukas-Evangelium: unfassbare, heilige Handlung inmitten des Alltags. Der Dirigent Teodor Currentzis hat die Szene im Gesprächskonzert, seinem „Currentzis Lab“, unter der Woche im Stuttgarter Mozartsaal nachempfunden (als guter Schauspieler, der er auch ist), während neben ihm an zwei Flügeln der Choral im Finale ansetzte. Currentzis zog, simpel, aber sprechend, eine Hand über sein Gesicht und stellte mit einer natürlichen Bewegung und auf erstaunliche Weise unpathetisch dar, dass da eine Verwandlung stattfindet, stattgefunden hat und immer wieder stattfinden wird. Dass jemand im Tod ein anderer geworden ist. Schon noch, aber eigentlich nicht mehr von dieser Welt. In und mit Gustav Mahlers Musik.

 

Man sollte sehr vorsichtig umgehen mit dem Prädikat „magischer Moment“, wenn das Wort auch jederzeit für einen Übersteiger beim Fußball oder Geringeres gelten kann. Aber das hier, im Mozartsaal, war wohl einer.

Der singende Klang

Gewissermaßen mit doppelter Schubkraft kehrt dieser Moment am Ende des sechsten Satzes von Gustav Mahlers ziemlich alle Kräfte aufbrauchenden Sinfonie Nr. 3, d-Moll, zurück, als Currentzis zwei Tage später mit dem SWR-Symphonieorchester im Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle zum Schluss kommt. Man kann dieses Ende, jenseits der doppelten Paukenschläge, noch einmal besonders betonen, also buchstäblich herausmeißeln, oder eine Art von musikalischem Emmaus vollziehen: Currentzis entscheidet sich, wie oft, nicht mehr Effekt zu machen als wahrheitsgemäß in der Partitur vorgeschrieben ist. Große Dinge müssen nicht größer sein wollen, als sie schon sind, sonst wären sie fauler Zauber. Aber Currentzis’ Hingabe ist echt, und echt und wahr ist auch, was das SWR-Symphonieorchester als Einheit zurückgibt. Es führt mehr als anderthalb Stunden nicht nur einen Plan aus, sondern in eine Idee hinein, einen Kosmos.

Gut möglich vielleicht, dass die Attraktivität von Gustav Mahler, dessen großes Werk Leonard Bernstein auf der Bühne und theoretisch Theodor W. Adorno in den Sechziger und Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts neu im Bewusstsein der musikalischen Öffentlichkeit etabliert haben, in unseren Tagen auf diese Art und Weise noch einmal zunimmt. Wer, wie Adorno gezeigt hat, mit der stilisierten romantischen Konstruktion des Heroischen seine Schwierigkeiten hat, kann in den sich überlagernden Texturen Mahlers – Collagen, wenn man so will, die manchmal wie gesampelt erscheinen – buchstäblich andocken. Currentzis eröffnet in der Dritten Sinfonie von Anfang an diese Räume für das assoziierende Bewusstsein, in denen aufscheint, was uns umtreibt: die Lust am Leben und die Angst vor dem Verlust in buchstäblich überbewegter Zeit.

Deutlich und um einzustimmen auf alle Reflexion, die nun fast eindreiviertel Stunden lang folgt, setzt er das Hauptthema in den acht Hörnern zu Beginn. Es ist ein Weckruf, der im Moment das Orchester erfasst, das im Folgenden deswegen so brillant spielt, weil es aufeinander hört, als äußere sich jeder zum ersten Mal. Als würde einfach immer erwogen und korrespondiert. Wie von selbst, also organisch, nehmen die Posaunen den Rhythmus der Trommel auf, wie von alleine stellen sich die Bezüge her. So hört man später, von rückwärts aus gewissermaßen, wie das Geigensolo im vierten Satz (entrückt und geerdet zugleich: die Konzertmeisterin Natalie Chee) im ersten von der Trompete schon vorgezeichnet worden ist, und auch das ist ein besonderer Augenblick. Das, was Michael Gielen, vormals Chef des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg (und wegweisender Mahler-Dirigent), einmal den ungebundenen Formverlauf im Sonatensatzschema des ersten Satzes genannt hat, wird also jederzeit transparent gemacht, auch und gerade für Menschen, die sich vielleicht zum ersten Mal auf die Musik von Gustav Mahler einlassen. Die Interpretation ist sich also niemals selbst genug, sie strebt immer eine Öffnung an: Deutlichkeit (Posaunensolo), ohne penetrant zu werden. Der entstandene Überdruck nach dem ersten Satz lässt spontanen Applaus aufkommen. Lange Ovationen am Schluss.

Leictigkeit und Ernst

Auffällig zunächst im Folgenden nach dem ersten Satz: die Leichtigkeit der ganzen Unternehmung bei gleichzeitig bleibendem Ernst. Das Tempo di Menuetto wägt Currentzis sehr sinnlich und singend, gelöst, die Trios mit Freude an der Variation. Die Trennschärfe zwischen den Gruppen bleibt absolut gewahrt, der Apparat scheint sich in der Minute kammermusikalisch zu verkleinern. Die Spannung bleibt. Tatsächlich „ohne Hast“ und mit ausgefeilter Dynamik bereitet er das Posthornsolo von Jörge Becker vor, die Geigen fast nicht mehr hörbar, aber eben doch immer da. Es entsteht eine Balance zwischen Hinter- und Vorderbühne, die gefährdet scheint und es dennoch niemals ist. Wundersam und sehr ins Gemüt gehend, genauso wie die gleich Wagners Erda aus dem Bühnenboden wachsende Altistin Gerhild Romberger: „Die Welt ist tief. Und tiefer, als gedacht!“

Und noch einmal ein Sprung

In der formalen, aber vor allem inhaltlichen Bewältigung scheinen Currentzis und sein Orchester (und es ist sein Orchester, denn es spielt mit ungeheurer Intensität Mahler, wie Currentzis ihn erarbeitet hat) binnen eines halben Jahres seit der Bruckner/Ligeti-Aufführung noch einmal einen Sprung gemacht zu haben. Er gründet, so viel man als Außenstehender bei diesem Antrittskonzert dazu sagen kann, augenscheinlich auf großem, beiderseitigem Vertrauen. So kann Currentzis, immer in fließender, der Musik angeschmiegter Bewegung, bereits im 5. Satz und im Bettlerlied (Knabenchor Collegium Iuvenum Stuttgart, MDR-Rundfunkchor) einen besonderen, unwiderstehlichen Sog entwickeln, den er, ohne forcieren zu müssen, wie selbstverständlich in das Finale mitnimmt – auf dem langen Weg nach Emmaus.

Currentzis erreicht die Musik werdende Utopie der allumfassenden Liebe, von der in diesem Finale erzählt wird, weder atemlos noch ansatzweise ängstlich, sondern bestens vorbereitet nach der Naturmusik und Nachtanalyse. Der erste Satz spiegelt sich in der Kontrapunktik des letzten, und wenn eine gewisse Bedrohlichkeit aus der Exposition noch einmal anklingt, hat sie doch längst verloren. Der Rest ist Zukunftsmusik im Sinne des Vorspruchs: „Vater sieh an die Wunden mein! Kein Wesen lass verloren sein!“ Ein Auftrag. „Was mir die Liebe erzählt“, hier konnten wir’s hören, in einem fast ekstatisch aufgeladenen Schluss.

Man darf diesen Abend in seiner Größe und Tiefe als Versprechen nehmen (es folgt ja, unter anderem, noch mehr Mahler in dieser Saison), denn es entwickelt sich hier vor Ort und in Freiburg offenbar etwas wirklich Neues, Mitnehmendes. Es gelingt Teodor Currentzis mit seiner musikalischen Kompetenz und Empfindung, aber auch mit seinem Willen zur Kommunikationsbereitschaft, die über das Musikalische hinausgeht, womöglich ein neues Publikum aufzuschließen, dem das Vergangene nie vergangen sein wird. Glückwunsch also. Ihm – und uns zu ihm. Und: Danke.