Herrlich komplizierte Damen: die Amerikanerin Julia Holter und die Österreicherin Anja Plaschg alias Soap & Skin legen neue Alben vor. Sie zeigen, was zeitgenössische Unterhaltungsmusik bieten kann – oder vielleicht sogar muss.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Julia Holter und Anja Plaschg sind zwei Musikerinnen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander gemein haben. Die eine wurde in Los Angeles geboren und lebt auch in dieser Weltmetropole, die andere stammt aus dem südösterreichischen Ort Poppendorf, in dem ihre Eltern Schweinemast betrieben. Holter ist Mitte dreißig und hat bereits sechs reguläre Alben veröffentlich, von denen das vierte, „Have you in my Wilderness“, ihr internationalen Erfolg nebst Chartplatzierungen in Deutschland und Großbritannien einbrachte; die 28-Jährige Plaschg legt nun ihr drittes Album vor, und obwohl sie englisch singt und von der Kritik für ihr Debüt „Lovetunes for Vacuum“ gefeiert wurde, beschränkt sich ihr Erfolg einstweilen nahezu auf den deutschsprachigen Raum.

 

Ausnahmetalente sind aber beide. Plaschg, die seit ihrem sechsten Lebensjahr Klavier spielt und als 16-Jährige in die Meisterklasse von Daniel Richter an der Wiener Kunstakademie aufgenommen wurde, bekam als 19-Jährige nach ihrem sensationellen Debütalbum Anrufe von John Cale und Patti Smith. Holter hat am renommierten California Institute of Arts Komposition studiert, die Tochter einer Geschichtsprofessorin liebt den historischen Überbau: Ihr Debüt „Tragedy“ war ein Konzeptalbum über Euripides‘ Trauerspiel „Hippolytos“, der Nachfolger „Ekstasis“ spielte mit dem Geist der Renaissance.

Freundinnen schöner Künste

Gemein ist beiden diese genreübergreifende Kunstaffinität. Holters letztes Konzert in Deutschland fand vor zwei Jahren beim Festival Enjoy Jazz in Heidelberg statt, davor spielte sie in der Berliner Volksbühne und im Kölner Museum Ludwig. Plaschg trat im Linzer Mariendom, dem Leipziger Schauspiel und der Kölner Philharmonie auf; ihr einziger Stuttgarter Auftritt 2010 im Theaterhaus – mit Laptop und Kammerorchesterbesetzung – glich in seiner morbiden, klaustrophobischen Anmutung, wie unsere Zeitung seinerzeit schrieb, „eher einem Gang zum Schafott denn einem Konzert“. Hinzu kommt bei beiden eine für Bühnenkünstler fast schon verstörende Introvertiertheit. Das geht los mit Plaschgs allzu sperrigem und Holters nicht minder außergewöhnlichem – „Aviary“ bedeutet auf deutsch Voliere – Albumtitel. Und es zeigt sich schließlich auch in der abweisend strengen Attitude, mit der sie sich für ihre Promotionfotos in Szene setzen.

Eingespielt hat Plaschg ihr neues Album mit ihrem Lebensgefährten Anton Spielmann von der deutschen Band 1000 Robota, mit dem sie auch schon Bühnenmusiken etwa für „Antigone“ am Burgtheater und Jette Steckels „Romeo und Julia“ am Thalia geschrieben hat. Plaschg hat vor einigen Jahren den Soundtrack zu der filmischen Bachmann/Celan-Hommage „Die Geträumten“ geschrieben. In ihrem Song „Creep“ scheint nun in Fetzen Ingeborg Bachmanns Poem „Erklär mir, Liebe“ auf sowie ein altrömisches Palindrom – „In girum imus nocte et consumimur igni“ – in dem Lied „Palindrome“. „What a wonderful World“ beschließt den Reigen der zwölf neuen Stücke, weiter von Louis Armstrong entfernt als Plaschgs diabolische Interpretation könnte man diesen Klassiker gar nicht spielen.

Mit Streichern und Piano

Musikalisch scheinen opulente Streicher- und Bläsersätze ebenso wie Loops und Computerfrickeleien nur gelegentlich auf, instrumental lebt das Album mehrheitlich von Plaschgs (E-)Pianospiel. In erster Linie ist es ein Fest der Stimme. Mal zerbrechlich, mal grimmig wutentbrannt singt Plaschg, mit erstaunlich kräftigem Volumen und wunderchönem Timbre, wie die dazugehörigen Sounds hat sie auch ihre Stimme oft im Computer collagiert und aufeinandergeschichtet zu einem ergreifenden, berührend nahem Ganzen, das nach wie vor viel gespenstisches Ambiente und Seelenpein verströmt.

Bei aller Güte langt das Album dennoch nicht an ihr vor Intensität berstendes Debüt „Lovetune for Vacuum“ heran, an den grundstürzenden, irrlichternden, entäußerten Duktus der dortigen Stücke „Thanatos“, „Spiracle“ oder „Marche Funèbre“ mit ihrer hallenden Abgründigkeit und ihrem zittrigen Minimalismus. Eine schwermütig-pathetische Schmerzensfrau bleibt Anja Plaschg dennoch. Die Welt scheint sie, die in ihren wenigen Interviews stets so fragil wirkt, fast ein wenig zu überfordern. Deshalb hat sie dieses Album, für das sie eine sechsjährige Veröffentlichungspause dringend gebraucht hat, in ihrer Wiener Wohnung aufgenommen, Und deshalb gibt es auch keine dazugehörige Tournee. „My last Concert was two Years ago, and I won’t play any other this year. I still need to recollect, I’m not talented in compromising and I have to handle anxiety and blackouts“, schreibt sie auf ihrer Facebookseite. Auch das gibt zu denken.

Und wie klingt Julia Holter?

Julia Holter hingegen wird im Dezember unter anderem in der Elbphilharmonie und den Münchner Kammerspielen auftreten. Gesanglich rangiert sie auf ihrem dritten Album innerhalb dreier Jahre eher bei ihrer unüberhörbaren Referenzgröße Björk, freilich nicht ganz mit deren Oktavumfang und Stimmkörper, aber dennoch deutlich über dem gängigen Niveau.

Musikalisch findet sich Holter jetzt eher bei der Neuen Musik als bei dem Dreampop ihres vorvergangenen Albums „Have you in my Wilderness“ wieder. Die Klangexperimente einer Laurie Anderson oder Zeena Parkins’ sonische Welten mögen in den Sinn kommen; Synthesizer, Geige, Bratsche, Kontrabass, Dudelsack und Schlagzeug bilden ihre Instrumentierung. „Everyday is an Emergency“ heißt bezeichnenderweise der Songtitel, in dem der Dudelsack seinen peinigenden Klang besonders burlesk entfacht, programmatisch steht das Stück für die teils schwerste Kost, die hier serviert wird. Streng genommen bietet dieses neunzigminütige (!) Doppelalbum unter seinen 15 Tracks nur einen einzigen – „Underneath the Moon“ –, der konventionellen Popsongstrukturen gerecht wird. Und trotzdem: Die Summe des Einfallsreichtums, der künstlerische Eigensinn, die Ordnung inmitten des Chaos und eine erratische Musikalität vergolden dieses Album zu einem dann doch großen Wurf.

Besser als die anderen

Es ist, bei allen Einschränkungen, der unbedingte Mut zum Experiment, der diese beiden Alben herausstechen lässt. Und es ist die echte Innerlichkeit, die sie wohltuend von der lahmen Befindlichkeits- und Betroffenheitslyrik und der austauschbaren Musizierhaltung abheben, mit der zuletzt gerade hierzulande junge deutsche männliche Musiker seltsamerweise Erfolge feiern. International hingegen zeigt eine beeindruckende Garde jüngerer Künstlerinnen, von aufstrebenden Talenten wie Phoebe Bridgers über Musikerinnen wie etwa Grimes, Joanna Newsom, Zola Jesus, Mitski und Marissa Nadler bis zu Anna Calvi und eben Plaschg und Holter, dass doch die Wege jenseits ausgetretener Pfade die einzig interessanten sind.