Neue Chefdramaturgin im Schauspiel Stuttgart „Man darf keine Scheu haben, sich zu behaupten“

Neue Stellvertretende Intendantin am Schauspiel Stuttgart: Gwendolyne Melchinger Foto: LICHTGUT/Max Kovalenko

Gwendolyne Melchinger ist neue Stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin am Schauspielhaus Stuttgart. Ein Gespräch über Frauen und Machtverhältnisse, faszinierende Parallelwelten und ihre Pläne für das größte Theater in der Stadt.

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Kein neues Stück von Clemens J. Setz oder Elfriede Jelinek im Gepäck für die Theaterferien. Dafür Balzacs „Verlorene Illusionen“ – ein Titel, der so gar nicht zum aktuellen Berufsleben von Gwendolyne Melchinger passt, die von der kommenden Saison an den Titel Stellvertretende Intendantin und Chefdramaturgin des Schauspiels Stuttgart trägt. „Privat lese ich lieber Belletristik als Theaterstücke und ich habe große Lust, den Roman wieder zu lesen“, sagt Gwendolyne Melchinger, nachdem sie auf der kleinen Bühne im Foyer des Schauspielhauses für den Fotografen posiert hat.

 

Die Bühne ist der Ort, an dem das Publikum sie gelegentlich erlebt, bei Stückeinführungen ist es Job der Dramaturgin, dem Publikum unterhaltsam möglichst und doch ohne zu viel zu verraten, Wissen zum Stück und zur Inszenierung zu vermitteln. Es könnte aber doch sein, dass aus Urlaubslektüre irgendwann wieder Arbeit wird. Neben Erst- und Uraufführungen zeitgenössischer Autorinnen und Autoren kommen im Schauspiel Stuttgart regelmäßig dramatisierte Romane auf die Bühne.

So wie zuletzt Joseph Roths Roman „Hotel Savoy“, den Gwendolyne Melchinger gemeinsam mit der Regisseurin Corinna von Rad für die Bühne adaptiert und in der Vorbereitung und während der Proben auch den Darstellern vermittelt hat. „Ich empfehle immer, den Roman zu kennen, denn man kann ja nicht alles auserzählen; für das Kreieren der Figur und fürs Spiel kann es hilfreich sein, so viel wie möglich über die Figuren in dem Roman zu wissen.“

Szene aus Roths „Hotel Savoy“ mit Boris Burgstaller, Gábor Biedermann, Marco Massafra, Josefin Feiler (v. li.). Foto: Schauspiel Stuttgart/Toni Suter

Bei einer Romanbearbeitung ist die Herausforderung dann besonders groß – worauf konzentriert man sich, streicht man gleich ein Kapitel oder kürzt man nur verschiedene Stellen? Wie übersetzt man Gedanken, Schilderungen von Landschaften, Szenen ohne Dialoge in Bühnensprache? Das sind Aufgaben, die den Beruf der Dramaturgin auch prägen. Es ist eine Arbeit für Literaturwissenschaftlerinnen – und für Diplomatinnen.

Teamarbeit ist wichtig

Nicht nur zwischen Geschriebenem und Gesprochenem zu vermitteln, sondern ebenso zwischen Regie und Schauspiel, gehört zu Gwendolyne Melchingers Arbeit. „Man muss Teamarbeit mögen“, sagt sie, „und wenn es aufgeht und jeder den anderen unterstützt, ist es großartig“. Und wenn es dann auch noch beim Publikum und der Kritik ankommt, so wie Shakespeares „Was ihr wollt“ in der Regie von Burkhard C. Kosminski, erst recht.

Gwendolyne Melchinger hat mit Klassikern wie mit zeitgenössischen Texten viel Erfahrung, auch im Umgang mit nicht ganz einfachen Künstlern. Gleich ihre erste Station führte sie an einen Theatertempel, ans Wiener Burgtheater. „Mein Professor an der Universität hatte mir die Dramaturgieassistenz vermittelt. Ich habe sehr viel gelernt dort.“ Das glaubt man gern, immerhin waren Schauspieler wie der noch junge, heute gefeierte Nicholas Ofczarek im Ensemble, arbeiteten bekannte Regisseure und Bühnenbildner an dem Traditionshaus.

Manche Verbindungen von früheren Arbeitsorten helfen bis heute, etwa wenn es heißt, interessante Regisseurinnen und Regisseure für Stuttgart zu gewinnen oder Schauspieler, sei es als Gäste oder als feste Ensemblemitglieder. So wie zum Beispiel der heute viel gefragte David Bösch, den sie als junges Regietalent am Theater in Essen kennengelernt hatte und dem jüngst in Stuttgart mit „Don Carlos“ ein formidabler Schillerabend gelang.

Da nun deutlich noch mehr mitgestalten zu können – eine Aufgabe. Und hoch verdient. Sehr viele Jahre schon arbeitet Melchinger als Dramaturgin. Hat sich etwas am patriarchalen Theater getan, seit die Problematik allgemein an deutschen Bühnen vor einigen Jahren öffentlich gemacht wurde? „Frauen haben es immer noch schwerer“, sagt Gwendolyne Melchinger. „Aber es hat sich verbessert. Man darf keine Scheu haben, sich zu behaupten.“

Mehr junge Regisseurinnen für die große Bühne

Und jetzt kann sie selbst etwas an der Theateratmo ändern, deutlich mehr entscheiden, was auf den Spielplan kommt, wer eingestellt wird. Ihre Pläne? „Ich möchte große Literatur zeigen, ich möchte mit Projekten in die Stadt hinausgehen, das Theater noch weiter öffnen, Formate auch für junges Publikum intensiveren. Wir wollen mehr junge Regisseurinnen auch für die große Bühne gewinnen. Und ich freue mich auf Projekte wie den Rudolf-Steiner-Abend im Oktober des britisch-irischen Theaterkollektivs Dead Centre, deren Theatererkundungen über Freud und Wittengestein ich in Wien gesehen habe und begeistert war.“

Was sich das Regieduo zu dem Anthroposophen und Erfinder der Waldorfschulen einfallen lassen, dürfte in Stuttgart, wo die erste Waldorfschule der Welt entstand, auf besonders starkes Interesse stoßen. Dort wird sie als Dramaturgin beteiligt sein ebenso wie bei der deutschen Erstaufführung von Dea Lohers Drama „Frau Yamamoto ist noch da“. Den Roman „Berlin Alexanderplatz“ von Döblin zum Saisonauftakt musste sie nun nicht aktuell noch einmal lesen, eine junge Kollegin, Katja Prussas, die das Dramaturgieteam nun bereichert, kämpft sich gemeinsam mit Dusan David Parizek (dem auch schon die Dramatisierung von Anne Webers Langgedicht „Annette, ein Heldinnenepos“ gelungen ist) und dem Ensemble durch den mehrere hundert Seiten starken Klassiker.

Zwischen Eurythmie und zeitgenössischer Dramatik – Vielfalt macht den Reiz von Theater aus, findet Gwendolyne Melchinger. „Theater kann überraschen, es kann utopische Räume kreieren, vertraute Räume neu gestalten, Parallelwelten erfinden, und, bitte, auch unterhalten. Und zugleich mit Themen konfrontieren, die sonst schwer erträglich, die bedrückend sind, möglichst aber ohne didaktisch zu werden“. Der moralische Zeigefinger, manchmal schnellt er dann doch nach oben in einer Produktion, damit muss eine Dramaturgin dann auch leben. Egal ob bei eigenen Produktionen oder denen der anderen.

Kritik, ganz gleich ob interner oder externer, ist Teil dieser Arbeit. Das weiß Gwendolyne Melchinger seit Kindertagen, wie sie sagt: „Ich komme aus einer Theaterfamilie.“ Der Vater war Opernregisseur, die Mutter Literaturwissenschaftlerin, der Großvater Theaterwissenschaftler und Kritiker. In die Oper ist sie schon als Sechsjährige gegangen und seit sie mit 14 Jahren mit ihrer Familie nach Wien zog, war sie dort schon häufig in der Burg, sah legendäre Aufführungen wie Thomas Bernhards „Heldenplatz“ in der Regie von Claus Peymann mit Gert Voss. Neue Talente entdecken, Schauspielerinnen und Schauspieler fördern – das kann sie nun in vorderster Reihe selbst angehen.

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