Herbst 1988: Vier amerikanische Vorstadtmädels fahren frühmorgens Zeitungen aus. Routine ist das allerdings nicht: In der neuen Comicreihe „Paper Girls“ könnte auf ihrer Morgentour gut und gerne das Ende der Welt anbrechen. Die Flugsaurier am Himmel sehen jedenfalls bedenklich aus.

Stuttgart - Wenn noch ungelesene Tageszeitungen frühmorgens schon achtlos im Straßendreck landen, von den Zeitungsausträgerinnen selbst weggeworfen, dann blutet einem alten Printjournalisten natürlich das Herz. In der neuen Comicserie „Paper Girls“, die auf Deutsch beim Ludwigsburger Cross-Cult-Verlag erscheint, gibt es allerdings einen guten Grund für diese Attacke auf die Sensibilitäten aller Old-School-Rezensenten. Die vier Mädels, die hier auf ihren Fahrrädern noch vor fünf Uhr in der Frühe den „Cleveland Preserver“ zustellen, stolpern nämlich in sehr ungewöhnliche Ereignisse. Um es in den schamhaft zurückhaltenden Worten des Originalverlages Image Comics in den USA zu sagen: die Zeitungsmädels stolpern in die wichtigste Geschichte aller Zeiten.

 

Die 12-jährigen Mädchen sind nur ausnahmsweise in der Gruppe unterwegs, es ist der Morgen nach Halloween, und sie gehen davon aus, dass man besser nicht allein radelt: schließlich seien noch zu viele kostümierte Durchgeknallte unterwegs. Drei von ihnen haben sich so zusammengetan, eine von ihnen trägt einen Hockeyschläger auf dem Rücken wie der Ronin eines Kurosawa-Filmes sein Schwert, einen funzelt mit ihrer Stabtaschenlampe ins Dunkle, als könne sie das Gerät jederzeit auf ‚Betäubung’ stellen, und die forscheste von ihnen trägt eine Punk-in-Zofflaune-Attitüde vor sich her wie eine Bulldozerschaufel. Diese Clique trifft dann auf die von Zeitungsanlieferungslaster aus Albträumen geweckte Erin, die tatsächlich gerade Stress mit ein paar Jungs in Kostümen hat.

Vermummte Typen und andere Gefahren

Diese rüpeligen Angrapscher sind allerdings schnell klein gemacht, die versprochene große Geschichte beginnt mit ihnen noch nicht. Sondern mit drei vermummten Typen in Schwarz, die man für Eigenbau-Ninjas halten könnte. Wenn nicht ein Panel uns zeigen würde, was die Mädels noch nicht sehen: dass mindestens einer dieser Kerle sehr seltsame Pupillen hat.

Von da an eskalieren Ereignisse zügig, eine eigenartige Raumkapsel, Flugsaurier, radebrechende Ritter in Hightech-Rüstung und Mutanten-Teenies tauchen in einer Vorstadt auf, über der plötzlich ein ganz anderer Sternenhimmel steht und aus der die meisten Bewohner spurlos verschwunden sind. „Paper Girls“ ist ein Science-Fiction-Comic, der mit vielen verschiedenen Elementen jongliert, was nicht weiter verwundert, wenn man sich den Namen des Autors ansieht: Brian K. Vaughan.

Zusammen mit der Zeichnerin Fiona Staples ist Vaughan für die Haken schlagende, Genregrenzen verwischende Science-Fiction-Comicserie „Saga“ verantwortlich, einen mit Eisner-, Harvey- und Hugo-Awards reich gesegneten Erfolg. „Saga“ startet in einem ganz eigenen Kosmos, „Paper Girls“ ist zu Beginn auf unserer Erde im Jahr 1988 angesiedelt. Vaughan wählt eine Prämisse, wie sie typisch ist für Hollywoodfilme der Spielberg-Schule: das ungeheuerlich Andere, das faszinierend und bedrohlich Fremde offenbart sich im ganz gewöhnlichen amerikanischen Alltagsleben, dessen Teenies zu Helden werden müssen.

Wie in besten „Vertigo“-Zeiten

Nur wird schnell klar: kindgerecht oder auch nur jugendfrei will „Paper Girls“ nicht unbedingt sein, der Grad an Komplexität und Verwirrung darf höher sein als in einem Popcornfilm. Vaughan selbst und der Zeichner Cliff Chiang haben „Paper Girls“ in Interviews mit modernen TV-Serien verglichen. Fiona Staples kann für „Saga“ gewiss die exzentrischeren, die berückenderen Bilder liefern, aber das liegt eben auch an der von Anfang an exotischeren Welt. Chiang liefert – mit sehr schönen Kolorierungen von Matt Wilson – jene für US-Comics typische Mischung aus Semi-Realismus, Karikatur und Ökonomie (es müssen viele Bilder in kurzer Zeit gefertigt werden können).

Nicht von ungefähr erinnert „Paper Girls“ an „Vertigo“-Serien der Achtziger, als dieses Sublabel von DC neu definierte, was amerikanischen Comiclesern zuzumuten sei. „Paper Girls“ erzählt nicht nur eine nahtlos in die „Vertigo“-Bibliothek passende Geschichte, sondern spielt auch in jenen Tagen. Wo genau die Reise hingehen wird, lässt sich nach dem ersten Band noch nicht sagen. Aber etwas anderes: dass man diesen Mädels, die am Ende des Auftakts bereits mit „Zurück in die Zukunft“-Zeitsprungprobleme zu tun haben, gerne noch eine Weile folgen wird. Schließlich haben sie sogar weggeworfene Zeitungen wieder aufgehoben, die noch eine wichtige Rolle spielen werden.

Brian K. Vaughan, Cliff Chiang: „Paper Girls“, Band 1. Cross-Cult-Verlag, Ludwigsburg. 144 Seiten, 22 Euro. Im Handel ab 15. März.