Die Sprengkraft liegt in den kleineren Beiträgen der Berlinale – es geht in den Filmen von Pablo Larraín, Patricio Guzman und Jayro Bustamante um Schuld, Macht, Angst sowie Welten, die wir lieber gar nicht kennen wollen.

Berlin - Der Dienstag war bei der Berlinale einer von mehreren Tagen, die im Zeichen von Wim Wenders stehen: Er wird in diesem Jahr für sein Lebenswerk ausgezeichnet, und im Wettbewerb stellte er, wenn auch außer Konkurrenz, seinen neuen Film „Everything will be fine“ vor, ein stilles Drama, das keine Bösewichte kennt und keine Helden, nur Verlierer. Nichts wird gut in dieser Geschichte, auch wenn einander alle sich ständig der Rückkehr der Normalität versichern.

 

Der Film zeigt über zwölf Jahre den Versuch verschiedener Menschen, mit einem großen Unglück zurechtzukommen. Ein junger Schriftsteller (James Franco) überfährt ein Kind, nichts außer dem Zufall hätte dies verhindern können. Ruhig, ziemlich glattgebügelt und melancholisch erzählt Wenders die Geschichte der Mutter (Charlotte Gainsbourg), des Bruders und des Fahrers. Der Mut in dieser Idee besteht vielleicht am ehesten darin, Menschen zu zeigen, die vor lauter Kummer immer nur so weit ausrasten, dass sie mit dieser Gesellschaft kompatibel bleiben.

Die Filme mit großer Kraft

Wenders’ Film läuft außer Konkurrenz, aber der Deutsche gehört zu den großen Namen, hinter denen die kleineren Beiträge in den Hintergrund treten. Ein Fehler. Die große Kraft liegt in diesem Jahr in Filmen, die sich auf einem roten Teppich nicht so gut feiern lassen.

Da ist zum Beispiel „El Club“, eine üble Geschichte von Macht und Schuld, die der chilenische Regisseur Pablo Larraín wie ein Netz um seine Zuschauer legt, mit dem er sie einspinnt, ihnen in die Haut schneidet und sie festhält, auch wenn man am liebsten nicht mehr hinsehen möchte. Die Kunst des Wegsehens, um die geht es: am Rande eines gottverdammten Dorfs liegt oben auf dem Felsen über dem Strand ein gelbes Häuschen, hier leben vier Männer und eine Frau, und wer sie im Zwielicht am Essenstisch sitzen sieht, der spürt Verzweiflung.

In der Zwangs-WG hat die katholische Kirche exkommunizierte Priester versammelt, die irgendwann still und leise aus ihren Gemeinden entfernt wurden, als es nicht mehr ging. Man könnte auch sagen: hier leben Verbrecher, Männer, die Kinder missbraucht haben, Babys verkauft, mit den Mächtigen paktiert. Aber die Kirche schützt ihre Schäfchen vor der Rechtsprechung des Staates, jedenfalls die unter ihnen, die eine Soutane tragen. Die Schwester ist die diabolisch-sanfte Wärterin dieses Hauses der vorgeblichen Buße, in dem die Zerstreuung im Training eines gemeinsamen Windhundes liegt. Man hält sich vom Dorf fern, und das Dorf seinerseits schaut auch weg. Und so bleibt ein fester Deckel auf der Wahrheit.

Der Schutz der Institution über alles

Wie es darunter gärt, zeigt sich, als ein neuer Priester ins Haus kommt, dem die Vergangenheit in Gestalt eines seiner Opfer folgt. Laut brüllend erinnert der Trinker Sandokan seinen Täter daran, wie er ihn vergewaltigt hat, wieder und wieder, so dass sich der Priester am Ende erschießt. Damit das Opfer nun endlich schweige, ersinnen Priester und Nonne einen perfiden Plan, um den Zorn der Dorfbewohner gegen ihn zu wecken – im Schaffen von Sündenböcken hat man ja Erfahrung.

All das ruft einen modernen Jesuiten in SUV und Fleecepulli auf den Plan, von dem man sich als Optimist eine innere Erneuerung der Kirche erhoffen kann. Noch besser kennt er sich aus in Krisen-PR, die in der katholischen Kirche seit Jahrhunderten zum Kerngeschäft gehört: dem Schutz der heiligen Institution muss eben im Zweifel die Wahrheit weichen. „Ich liebe meine Kirche so sehr, dass ich euch vergessen werde“, sagt er. Im Tausch dafür müssen die Padres künftig mit dem Opfer unter einem Dach leben. Eine Lösung, die eigentlich nur der Teufel erfunden haben kann.

Nach dem Kino: Druck auf der Brust

Apropos teuflisch: Patricio Guzmans Film „Der Perlmuttknopf“ klingt und sieht zwar aus wie eine Meditation über Wasser in allen Erscheinungsformen, entpuppt sich dann aber als Geschichte darüber, was Menschen einander antun könnten. Der einzige Dokumentarfilm im Wettbewerb berichtet über die südchilenische Insel Dawson, auf der im 19. Jahrhundert die patagonische Urbevölkerung von Siedlern interniert und so fast vollständig getötet wurde. Jahrzehnte später nutzten die Häscher der Pinochet-Diktatur das Lager als KZ, folterten und töteten Hunderte Oppositionelle und warfen sie dann, mit Eisenbahnschienen auf der Brust beschwert und verschnürt wie Pakete, ins Meer. Im nervtötend freundlichen Tonfall eines Lehrfilmers berichtet Guzman mal von den viertausend Kilometern Küste und mal vom Grauen: alles ist Teil desselben Universums. Zu sehen sind dabei wunderschöne Bilder von blaugrünen Gletschern, fernen Galaxien, dem Meer – und dann Fotos der getöteten indigenen Stämme, Interviews mit Nachkommen, ein Gruppenbild von Folteropfern und Abschnitte eben jener Eisenbahnschienen, die in dreißig Jahren auf dem Grund der See von Meerpocken zerklüftet wurden. Auf einer dieser Schienen halten die Meerpocken einen winzigen Perlmuttknopf fest. Er beweist als wichtiger Teil einer Indizienkette die Verbrechen der Täter – und wird für Guzman zugleich in einer leicht verkopften Konstruktion zur Verbindung zum Mord an den Ureinwohnern. Nach 82 Minuten kommt man wie hinterrücks überfallen aus dem Kino und denkt: Erstaunlich, welchen Druck auf der Brust so ein kleiner Hemdenknopf und Muschelhaut auslösen können.

„Ixcanul Volcano“ heißt der Debütfilm des guatemaltekischen Regisseurs Jayro Bustamante, welcher eine sehr heutige Geschichte erzählt. Das Maya-Mädchen Maria, kaum volljährig, lebt mit seinen Eltern am Fuß eines aktiven Vulkans auf einer Kaffeeplantage. Maria soll mit dem Vorarbeiter Ignacio verheiratet werden, doch sie will lieber mit dem Kaffeepflücker Pepe in die USA ziehen – er verschwindet, sie bleibt zurück, schwanger.

Bustamante hat sehr genau hingesehen, er zeigt, woran viele Menschen in seinem Land glauben und woran sie sich sehr zeitlos festhalten: an der Liebe, an der Familie, an der Solidarität zwischen denen, die sie gerade brauchen, und denen, die sie gerade geben können. Wie oft bei der Berlinale erzählt dieser Film von der Gleichzeitigkeit völlig getrennter Welten. Meist sind es Welten, die wir deshalb nicht kennen, weil wir lieber gar nichts von ihnen wissen wollen. Weil sonst der Kaffee ein bisschen sauer schmeckt und man bei Exportgütern aus Guatemala auf einmal nicht mehr an Schokolade denkt, sondern an Kinder.