Neue Gewaltambulanz in Stuttgart Schnelle Hilfe bei sexueller und körperlicher Gewalt

In der Gewaltambulanz dokumentieren die Ärzte die Verletzungen der Opfer. Foto: PR/Klinikum Stuttgart

Am Klinikum Stuttgart gibt es seit kurzem eine Gewaltambulanz. Dort haben Opfer die Möglichkeit, Spuren der Tat gerichtsfest sichern zu lassen – unabhängig von einer Anzeige bei der Polizei.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Viele Betroffene von Gewalt stehen zunächst unter Schock. Oft können sie gar nicht so schnell entscheiden, ob sie die Tat zur Anzeige bringen wollen – und sich einer anstrengenden Befragung bei der Polizei oder vor Gericht unterziehen möchten. Schnelles Handeln ist trotzdem oft nötig – um Beweise zu sichern. Das Klinikum Stuttgart hat nun am Olgahospital in der Stadtmitte für Gewaltopfer seit Kurzem eine Gewaltambulanz direkt neben der Notaufnahme.

 

In Stuttgart gibt es nun auch schnelle Hilfe für Betroffene

Opfer von körperlicher und sexueller Gewalt können sich in der neuen Ambulanz von erfahrenen Rechtsmedizinern untersuchen lassen – völlig unabhängig davon, ob sie später noch zur Polizei gehen möchten. „Besonders Menschen, die Gewalt erfahren haben, brauchen schnelle und niederschwellige Hilfe“, betont Jan Steffen Jürgensen, Vorstand des Klinikums Stuttgart, bei der Eröffnung der Gewaltambulanz im Olgahospital. „Hilfesuchende finden hier jetzt alles unter einem Dach – klinische Versorgung und Hilfe bei der forensischen Dokumentation.“ Das verhelfe ihnen zu ihrem Recht und wirke hoffentlich auch abschreckend auf potenzielle Täter.

„Rechtsmediziner kennen die meisten Menschen eigentlich nur aus dem ‚Tatort‘“, sagt Simone Höckele-Häfner, Ministerialdirigentin im Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration. Aber im Alltag müssten alle das Thema Gewalt sehr ernst nehmen. Jeden dritten Tag werde eine Frau in Deutschland Opfer eines Femizids. Mit der Gewaltambulanz wolle man Betroffenen zeigen, dass sie nicht allein seien. „Wir lassen sie nicht im Stich.“

So helfen die angebotenen Untersuchungen nicht nur, gefährdete Menschen zu erkennen, sondern auch, gerichtsverwertbare Beweise zu sichern, sagt Kathrin Yen (55), Ärztliche Direktorin des Instituts für Rechts- und Verkehrsmedizin am Universitätsklinikum Heidelberg und Gründerin der dortigen Gewaltambulanz. „Damit kann die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung erhöht werden.“ Gewalt durchdringe alle Gesellschaften, jeder könne Opfer werden. Oft fehle es aber an Beweisen. „Betroffene bleiben dann mit ihrem Trauma allein zurück.“

Fachärzte können oft erkennen, ob Gewalt angewendet wurde

Viele Opfer von Gewalttaten schämen sich, geben sich selbst die Schuld. Vor allem Kinder, die noch zu klein sind, um sich zu äußern, sind auf Hilfe von außen angewiesen. Durch entsprechende genaue Untersuchungen können Fachärzte in vielen Fällen erkennen, ob tatsächlich Gewalt angewandt wurde oder ob ein Kind wirklich nur vom Wickeltisch gefallen ist. „Es gibt bestimmte Arten von Brüchen, die sind komisch“, sagt Thekla von Kalle, Ärztliche Direktorin des Zentrums für Kinder-, Jugend- und Frauenmedizin im Klinikum Stuttgart, während sie ein Röntgenbild einer Fraktur am Bein zeigt. So würden Kinder, die noch nicht laufen, in der Regel mit dem Kopf zuerst fallen. Bei entsprechenden Verdachtsfällen würden die leitenden Ärzte vor Ort daher das Kinderschutzzentrum informieren.

„Vor allem, wenn es kleine Kinder sind, wollen wir jeden blauen Fleck sehen“, ergänzt Kathrin Yen. Oft sieht sie in ihrer Klinik auch Frauen, die über Jahre immer wieder mit Verletzungen kommen, die vermeintliche Unfälle gewesen sein sollen. Sie erinnert sich an eine Frau, die bereits 1995 erstmals in die Klinik kam mit einem geplatzten Trommelfell, in den Jahren darauf kommt sie immer wieder mit Verletzungen: Einmal wurde sie gewürgt bis zur Bewusstlosigkeit, ein anderes Mal mit einem Messer schwer verletzt oder an den Händen gefesselt – bis es letztlich im Jahr 2015 zur Vergewaltigung kam. „Die Frau war lange Jahre schwerer Gewalt ausgesetzt“, sagt Yen. Und genau um solche Fälle zu verhindern, ist die Gewaltambulanz da, indem die Vorfälle sauber dokumentiert werden. Und ja, manchmal bedeutet das auch, wie in dem geschilderten Fall, dass manche Opfer über Jahre hinweg immer wieder kommen. Aber irgendwann wollen sie vielleicht doch vor Gericht – und dann haben sie die Beweise dafür.

In der Ambulanz wird alles genau dokumentiert

Deshalb seien genaue Untersuchungen immens wichtig. „So erkennen wir heute schon sehr früh, wenn Menschen von Gewalt betroffen sind. Das ist echte Prävention“, sagt sie. Das Dunkelfeld bei Gewaltopfern sei groß. „Damit können wir ein Stück hineinschauen ins Dunkle.“ Den Betroffenen bieten sie einen geschützten Raum, in welchem diese sich äußern können. Auch unterstützen sie Betroffene dabei, weitere Hilfe zu finden. „Das wird auch sehr intensiv genutzt. Die Untersuchungen seien aufwendig, es werde alles dokumentiert wie Schwellungen, Verletzungen sowie Sperma- und Speichelspuren an der Bekleidung und am Körper. „Unsere Idee ist, dass jedes Gewaltopfer innerhalb von einer Stunde Hilfe finden kann“, sagt Yen.

Deshalb ist die neue Gewaltambulanz in Stuttgart auch geografisch wichtig. Neben der Gewaltambulanz Heidelberg, die bereits seit 2015 durch das Land gefördert wird, öffneten im Januar 2021 bereits die Gewaltambulanz in Freiburg und im Mai 2021 die Gewaltambulanz in Ulm.

Das Land unterstützt diese Gewaltambulanzen mit 450 000 Euro und kommt damit dem Übereinkommen zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt, der sogenannten Istanbul-Konvention, nach. Der Aufbau der Gewaltambulanz Stuttgart ist eine Außenstelle des Universitätsklinikums Heidelberg und wird durch das Land Baden-Württemberg mit 100 000 Euro finanziert. Die jährliche Landesförderung der Gewaltambulanz Stuttgart beträgt 400 000 Euro.

Die Ambulanz steht jedem Opfer offen und ist kostenlos

Die Ambulanz in Stuttgart leitet künftig Katharina Feld (36), die stellvertretende Institutsleiterin am Institut für Rechts- und Verkehrsmedizin am Uniklinikum Heidelberg ist. Ihre Erfahrung aus Heidelberg zeigt: Ist eine derartige Einrichtung vorhanden, kommen auch viele Hilfesuchende.

In den letzten zehn Jahren sei die Fallzahl in Heidelberg von 50 zu Beginn auf über 700 Fälle heute gestiegen. Ist die Hemmschwelle für Gewalt gesunken? „Das ist eine spannende Frage“, sagt die leitende Oberärztin. „Unsere Einrichtung ist auch bekannter geworden und gut ins Hilfesystem eingebunden.“ Das sei auch das Ziel für Stuttgart. Deshalb arbeite man eng mit vielen Organisationen zusammen, die sich um Gewaltopfer kümmern.

Das Team in Stuttgart besteht künftig aus vier Fachärzten, die sich um die Opfer kümmern – unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft oder der finanziellen Situation. Das Team soll auch mobil unterwegs sein: in Gefängnissen, in Jugendheimen und bei Ärzten, wenn es einen Verdacht gibt.

Auch Angehörige können sich bei einem spezifischen Verdacht an die Ambulanz wenden. „Wir brauchen überall diese Versorgungsstruktur“, sagt Svenja Binder (37). Die Rechtsmedizinerin leitet das Team vor Ort. Abends bis 23 Uhr sei immer jemand im Dienst, danach gebe es eine Rufbereitschaft. Auch am Wochenende sei durchgehend eine Ärztin aus ihrem Team da, da Gewalt an Wochenenden häufiger sei – das beträfe Schlägereien, aber auch Sexualdelikte.

Erreichbarkeit

Kontakt
Die Ambulanz steht allen Menschen offen, die Gewalt erfahren haben – unabhängig von Alter, Geschlecht oder finanzieller Situation. Das Angebot ist für die Opfer kostenlos. Allerdings muss vorab telefonisch unter der +49 152 / 56 78 33 33 ein Termin ausgemacht werden. Vor Ort hilft dann eine der Rechtsmedizinerinnen.

Anfahrt
Die Gewaltambulanz befindet sich im Olgahospital am Standort Mitte des Klinikums Stuttgart an der Kriegsbergstraße 62. (nay)

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