Entführungen und Explosionen in Nordrhein-Westfalen tragen die Handschrift der niederländischen „Mocro-Mafia“. Die Polizei sieht eine neue Dimension der Gewalt. Wie ist die Lage in Baden-Württemberg?

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Rodenkirchen gilt als beschaulicher Kölner Stadtteil. Doch was sich am vergangenen Freitagabend (5. Juli) hier abspielte, passt in einen knallharten „Tatort“-Krimi: Ein Spezialeinsatzkommando (SEK) befreite zwei Geiseln, die von ihren Entführern brutal gefoltert wurden.

 

„Extremste Bedrohungsszenarien“

„Wir haben eine neue Dimension der Gewalt im Bereich der organisierten Kriminalität erleben müssen, die es so hier in Deutschland noch nicht gegeben hat“, bilanziert am Dienstag (9. Juli) Kriminaldirektor Michael Esser im Kölner Polizeipräsidium.

Bei der Geiselbefreiung sei es zu „extremsten Bedrohungsszenarien“ gekommen, so Esser. Man habe damit rechnen müssen, dass die Täter die Geiseln umbringen würden. Drei Tatbeteiligte habe man entkommen lassen müssen, um das Leben der Geiseln zu schützen.

„Keine Rücksicht auf Unbeteiligte“

Hintergrund der Entführung sei organisierte Kriminalität im Drogenbereich, es stünden Geldforderungen im Raum. In diesem Zusammenhang seien auch mehrere Explosionen Ende Juni und Anfang Juli unter anderem in Köln und Engelskirchen zu sehen. Aus dem Informationsaustausch mit den niederländischen Polizeibehörden wisse man, dass dort schon länger Bedrohungsszenarien durch Sprengungen aufgebaut würden.

Für NRW sei das in dieser Dimension nun erstmals zu beobachten gewesen. „In den Niederlanden wird auch keine Rücksicht auf Unbeteiligte genommen, da werden auch Unbeteiligte teilweise lebensgefährlich verletzt oder gar getötet.“

Handschrift der „Mocro-Mafia

Äußerste Brutalität und gezielte Sprengungen gelten als Handschrift der niederländischen „Mocro-Mafia“. „Was man sieht, ist, dass den Agitatoren, die dieser Gruppierung angehören, Grenzen egal sind“, erklärt Oliver Huth, NRW-Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK). Diese Gruppierungen hätten ein „Elefantenhirn“, so dass auch in einigen Monaten noch Racheakte zu befürchten seien.

Michael Mertens, NRW-Chef der Gewerkschaft der Polizei (GdP), bestätigt: „Die niederländische Drogenmafia ist längst hier, und NRW als Verkehrsdrehscheibe ist da ein Dreh- und Angelpunkt. Was man sich klar machen muss: Das sind wirklich Täter von äußerster Brutalität. Und deshalb muss die Polizei entsprechend stark aufgestellt sein.“

Was ist „Mocro-Mafia“?

„Mocro“ ist in den Niederlanden ein Slangwort für Marokkaner. Der Begriff hat sich zu einem Synonym für organisierte Drogenkriminalität im großen Stil entwickelt . Ausgehend davon, dass einige Niederländer mit marokkanischen Wurzeln ihre Verbindungen in die alte Heimat für den Import von Drogen zu nutzen wussten: In Marokko wird Hanf traditionell als Heilpflanze angebaut.

Multikulturelle kriminelle Welt

Allerdings kursieren über die „Mocro-Mafia“ viele falsche Vorstellungen, sagt der niederländische Kriminologe Cyrille Fijnaut. So sei es völlig wirklichkeitsfremd, sich darunter eine einzige, straff geführte Organisation vorzustellen.

„Es ist nicht so, dass die Drogenkriminalität in den Niederlanden in der Hand einiger großer Bosse ist. Die Polizei würde sich das wünschen, denn dann könnte man viel einfacher dagegen vorgehen, aber so ist es eben nicht. In Italien gibt es das, aber bei uns ist die Sache komplizierter.“

Der Handel sei in den Händen vieler verschiedener krimineller Gruppen, und diese seien keineswegs alle marokkanisch geprägt. „Ich spreche deshalb selbst nie von der Mocro-Mafia“, erläutert Fijnaut. „Das sagt sich so einfach, aber wenn man sich die organisierte Drogenkriminalität anschaut, dann sind da auch Ur-Holländer in der x-ten Generation dabei. Die kriminelle Welt in den Niederlanden ist genauso multikulturell wie die Oranje-Elf.“

Zahnarztstuhl als Folterinstrument

Was die Drogenkriminalität dagegen tatsächlich kennzeichne, seien zahlreiche Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen – ähnlich wie es jetzt offenbar in NRW der Fall war. In der Unterwelt werden die Dinge anders geregelt als in der Realwirtschaft. Ein Sprengsatz unterm Auto, ein abgehacker Kopf vor einer Sisha-Bar, ein zum Folterinstrument umgebauter Zahnarztstuhl: All das ging schon durch die niederländischen Medien und schockierte die Öffentlichkeit.

„Diese Welt ist voller Konflikte. Und seit etwa zehn Jahren werden diese in zunehmendem Maße mit Waffengewalt ausgetragen“, erläutert Fijnaut. Pro Jahr würden etwa 10 bis 20 Menschen „liquidiert“. Das prominenteste Opfer war der Fernsehjournalist Peter R. de Vries.

Niederländischer Experte hat Rat für deutsche Polizei

Der emeritierte Professor für Strafrecht und Kriminologie ist um ein differenziertes Gesamtbild bemüht. So habe sich die Gesamtzahl der Morde in den Niederlanden seit den 1990er Jahren halbiert. Was allerdings enorm zugenommen habe, seien bestimmte Formen der Bedrohung innerhalb krimineller Milieus, insbesondere Explosionen von Sprengsätzen vor Wohnungen oder Geschäften.

Fijnaut hat einen Rat für die deutsche Polizei parat: Sie solle die Strafverfolgung nicht lokalen Polizeibehörden überlassen, sondern auf nationaler Ebene koordinieren, etwa über das Bundeskriminalamt (BKA). „Man braucht dafür eine Task Force, die überregional geführt wird. Und das gibt es in den Niederlanden bis heute nicht.“

Info: Italienische Mafia in Baden-Württemberg

Italienische Mafiosi
Wie das Stuttgarter Innenministerium berichtet, lebten 2023 knapp ein Viertel der Angehörigen der italienischen organisierten Kriminalität in Deutschland in Baden-Württemberg. Das vor allem organisierte Kriminalität wie die ‚Ndrangheta im Südwesten aktiv ist, wird auf die geografische Nähe zu Italien zurückgeführt, aber auch auf die Wirtschaftskraft des Bundeslandes, die Verbrecher lockt.

Straftaten
Das Spektrum der Straftaten reicht von Betrug über Drogenhandel und Waffendelikten bis zur Geldwäsche. Der Präsident des Landeskriminalamts, Andreas Stenger, geht von einer hohen Dunkelziffer an Mafiosi in Baden-Württemberg aus. Rund 170 mögliche Mafiosi in Baden-Württemberg sind den Ermittlern aktuell im Südwesten bekannt.

Unterwanderung
Im Südwesten kommt es eher selten unter Mafiosi zu öffentlichen Gewaltausbrüchen wie bei den rivalisierenden Banden im Großraum Stuttgart. „Bei der Mafia geht es um Einflussnahme, Machtanspruch, um Unterwandern von Wirtschaftskreisläufen. Das ist eine ganz andere Gefahr“, warnt LKA-Präsident Stenger. Die Mafia unterwandere die Gesellschaft „wie ein Krake“ und nehme Einfluss auf das wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Leben.

‚Ndrangheta
„Die Mitglieder der ‚Ndrangheta agieren sehr geschickt und unauffällig. Sie stellen ein Risiko dar, auf das wir nicht vorbereitet sind.“ Aus seiner Sicht ist die Mafia im Südwesten sogar auf dem Vormarsch, breitet sich derzeit immer weiter auch in ländlichen Gegenden aus, knüpft Kontakte, baut Geschäfte aus.