Die Nationalsozialisten haben Inge Auerbacher und ihre Eltern in das KZ Theresienstadt verschleppt. Sie überleben die Tortur. 1946 wandern sie nach Amerika aus. Auerbacher kehrt aber immer wieder zurück und wirbt für Frieden und Toleranz.

Jebenhausen - Zwei Anläufe benötigt Inge Auerbachers Familie, um Deutschland zu verlassen. Nach der Reichspogromnacht im November 1938 will sie weg – ist aber zu spät dran. Die Versuche scheitern. Die Nazis verschleppen die Tochter und ihre Eltern knapp vier Jahre später in das KZ Theresienstadt, alle drei überleben. Nach ihrer Befreiung hält die jüdische Familie nichts mehr in Deutschland. Die erstbeste Gelegenheit nutzt sie, um nach Amerika zu gelangen. Das war im Jahr 1946. Und doch: Inge Auerbacher kehrt immer wieder in die alte Heimat zurück.

 

Die Reichspogromnacht ist ein „unvergesslicher Schrecken“ für Inge Auerbacher. Die Übergriffe auf Juden erlebt die fast Vierjährige, geboren wurde sie am 31. Dezember 1934, in ihrem badischen Heimatdorf Kippenheim. Die Polizei weckt die Familie – und bringt eine Vorladung für den Vater. „,Alle jüdischen Männer sind jetzt verhaftet‘, sagten sie“, schreibt sie in ihrem Buch „Ich bin ein Stern.“ Ihr Vater, Berthold Auerbacher, im Ersten Weltkrieg schwer verwundet und für seine Tapferkeit mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet, hätte nie für möglich gehalten, dass die Nazis ihm und seiner Familie etwas antun würden. Während er und sein Schwiegervater – die Eltern von Inge Auerbachers Mutter aus Jebenhausen waren im November 1938 zufällig zu Besuch in Kippenheim – verhaftet und ins KZ Dachau gebracht werden, bleiben die Frauen und Kinder zurück. Randalierende Männer seien durch die Straßen gerannt und hätten Steine geworfen, erinnert sich Auerbacher: „Nicht ein jüdisches Haus blieb unberührt.“ Auch ihres nicht. Großmutter, Mutter und Tochter flüchten in eine Scheune.

Sicherheit vor den Nazis gab es nirgends

Ein paar Wochen nach der Pogromnacht kehren Inge Auerbachers Vater und Großvater aus Dachau zurück. Die Schikanen der Nazis gehen weiter. Sie nehmen dem Vater das Textilgeschäft weg. Danach „suchten wir einen Weg, aus Deutschland rauszukommen“, sagt Inge Auerbacher. Aber die meisten Länder der freien Welt hätten ihre Tore verschlossen. Die Familie packt die Koffer – und zieht im Mai 1939 zu den Eltern der Mutter nach Jebenhausen. Sicher ist sie dort nicht.

Ende 1941 beginnen die Deportationen der Juden nach Osten. Auch die Auerbachers und Inges Großmutter – der Großvater war inzwischen gestorben – werden deportiert. Berthold Auerbacher kann für sich, seine Frau und seine Tochter einen Aufschub erreichen, aber nicht für seine Schwiegermutter. Sie wird nach Riga deportiert, Inge wird sie nie wiedersehen.

Die Siebenjährige und ihre Eltern werden am 22. August 1942 ins Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Sie überleben die Tortur – wie zehn weitere der rund 1200 in das KZ deportierte Baden-Württemberger. Im Mai 1945 befreien russische Soldaten das KZ. Und Inge Auerbacher und ihre Eltern kehren zurück nach Jebenhausen. In dem Haus ihrer Großeltern leben längst andere, beim Empfang des Göppinger Bürgermeisters im Rathaus entdeckt ihre Mutter einen Orientteppich und eine Standuhr, die einst ihr gehörten.

Ein Onkel in New York nimmt sich der Familie an

Die Auerbachers wollen weg – nach Amerika. Der Bruder ihrer Mutter und dessen Frau wohnten schon in New York, erzählt Inge Auerbacher. Sie seien rechtzeitig aus Deutschland herausgekommen: „Meine Tante hatte einen Onkel, der schon lange in den USA lebte und als Metzger reich geworden war.“ Er hat für sie gebürgt. Ein Viehwaggon bringt Inge und ihre Eltern im Mai 1946 nach Bremerhaven, ein amerikanischer Truppentransporter nach New York. In Jamaica, New York City, werden sie heimisch. Vater und Mutter arbeiten wieder in der Textilbranche, Inge holt die Schule nach und wird Chemikerin.

Ihre Vergangenheit aber lässt sie nicht los. 1966 kommt sie zum ersten Mal zurück nach Jebenhausen – mit „sehr gemischten Gefühlen“. Nach der Reise zu den Stätten ihrer Kindheit – darunter das KZ Theresienstadt – entdeckt Auerbacher ihre Mission: Nur durch Brüderlichkeit und Bildung könne vermieden werden, dass sich Geschehnisse wie der Holocaust wiederholten. Diese Botschaft gibt sie seither unermüdlich in Vorträgen an Schulen, Universitäten und Kirchen weiter. Längst kommt sie fast jedes Jahr nach Deutschland. Für ihren Einsatz für Versöhnung, Friede und Toleranz erhält sie 2013 den Verdienstorden des Landes.

Selbst mit 81 Jahren ist Inge Auerbacher noch viel auf Reisen. Man hat den Eindruck, als mache sie das Versprechen wahr, das sie ihrer Mutter in dem Gedicht „Ich bin ein Stern“ aus ihrem gleichnamigen Buch gegeben hat: „Weine nicht, Mama, hör mein Versprechen,/Niemand wird meine Seele zerbrechen./Ich bin ein Stern.“

Dieser Text ist ein Teil einer großen Serie über Auswanderer aus der Region Stuttgart