Mit einem kleinen Dämpfer hat der Landtag Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten gewählt. CDU-Chef Thomas Strobl tat so, als hätte es nie Streit gegeben und eine kleine Szene löst Kopfschütteln aus – Beobachtungen von der Wahl im Landtag.

Stuttgart - Als Winfried Kretschmann in seiner Abgeordnetenbank auf das Ergebnis wartet, ist nicht mehr viel übrig vom Bild des abgeklärten Philosophen. Nervös trommelt er mit den Fingern aufs Pult, während neben ihm Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz das Tablet traktiert.

 

Als Landtagspräsidentin Muhterem Aras schließlich das Ergebnis vorliest – 82 Ja-Stimmen, 57 Nein-Stimmen – , herrscht ein Augenblick der Stille, als wäre etwas Schreckliches passiert. Erst dann beginnt der Saal zögernd zu applaudieren. Nur rechts außen rührt sich keine Hand, die AfD-Abgeordneten beobachten reglos die Szenerie.

Bei Kretschmann finden sich inzwischen die ersten Gratulanten ein, auch solche von FDP und SPD, die ihn nach Lage der Dinge nicht gewählt haben. „Ich nehme die Wahl an und danke dem Haus für das Vertrauen“, sagt der 67-Jährige, während auf der Tribüne schon das Rechnen beginnt.

82 Mal Ja, das sind zehn Stimmen mehr als nötig, aber sechs weniger, als Grüne und CDU an diesem Tag gemeinsam haben (eine Grünen-Abgeordnete ist krank). Ein halbes Dutzend hat Kretschmann also das Ja verweigert.

Als habe es nie Streit gegeben

Dabei hat CDU-Chef Thomas Strobl doch noch am Morgen versucht, die Fraktion mit einem „Mea Culpa“ zu besänftigen. „Ich bin zuversichtlich, dass alle Kretschmann wählen“, hat er in die Notizblöcke diktiert – als habe es nie Streit gegeben mit jenen, die bei der Regierungsbildung zu kurz kamen. Oder mit jenen, die ihm „diktatorisches Gehabe“ unterstellen, wie einer mault. Auch Kretschmann persönlich hat kurz vor der Wahl in den CDU-Reihen noch einmal Vertrauensbildung betrieben. „Das kam bei uns sehr gut an“, sagt ein Abgeordneter. Dabei geht es doch bei dem Streit gar nicht um Kretschmann. Es geht um Strobl.

Den sieht man nach der Wahl oben auf der Besuchertribüne bei seinen Eltern. Das sei ein sehr schönes Ergebnis, befindet er und weigert sich standhaft, daran einen Schönheitsfehler zu entdecken: „Er ist doch im ersten Wahlgang blitzsauber gewählt.“ Freudestrahlend schüttelt er Gerlinde Kretschmann, der Frau des Regierungschefs, die Hände. Diese hat ihre Verwandten um sich versammelt, fast in Sippenstärke bevölkern sie die Ränge. Kretschmanns jüngster Sohn ist angereist und hat Enkel Julius mitgebracht. Aus dem Hessischen ist sein ältester Bruder Ulrich gekommen, dessen markante Stimme übrigens exakt so klingt wie die des Ministerpräsidenten. Selbst sein Schwiegersohn Gordon Yeaman aus dem schottischen Edinburgh erweist ihm im Landtag die Ehre – und zwar im Kilt, dem typischen Schottenrock, was ihm das gesteigerte Interesse der Kameraleute sichert. Kretschmann, die Zweite – die ganze Familie applaudiert.

„Jeder kann abstimmen, wie er es für richtig hält“, doziert er nach seiner Vereidigung vor laufenden Kameras und gibt nun wieder ganz den Stoiker. Er sei zufrieden mit dem Ergebnis, auch wenn er sich ein paar Stimmen mehr hätte vorstellen können. Wenige Meter davon entfernt rechnet CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart derweil vor, dass die Gegenstimmen gar nicht aus seinen Reihen kommen können, weil am frühen Morgen nur noch ein Abweichler übrig war – und auch den habe man bekehrt. Nein, die Gegenstimmen stammten vielmehr von den Grünen. Auch dort gebe es Frustrierte. „Wir haben geschlossen abgestimmt“, versichert derweil sein Grünen-Kollege Schwarz – so gehen die Schuldzuweisungen munter hin und her.

Guido Wolf, einstmals Spitzenkandidat und künftiger Justizminister, sieht die Sache nüchterner und spricht von einem „ehrlichen Ergebnis“. Man solle sich jetzt hüten, potenzielle Abweichler zu suchen. Man wird sie ohnehin nicht finden, denn die Wahl war geheim. Die Nein-Stimmen seien eben auch Teil des Zusammenwachsens zwischen Grün und Schwarz, sagt Wolf. Was er nicht sagt: auch des Zusammenwachsens zwischen Schwarz und Schwarz.

Und eine kleine Begebenheit am Rande

„Wir brauchen den nötigen Freiraum“, rechtfertigt Reinhart noch einmal die kleine Palastrevolution vom Vortag und singt das Hohe Lied auf die selbstbewussten Abgeordneten. Aber ja, die Probeabstimmung vor zwei Tagen habe ein Ventil geöffnet, nun sei der Druck raus: „Wenn Dinge unterdrückt werden, dann gärt es.“

So dient dieser festliche Donnerstag im Landtag also auch der psychologischen Hygiene. Gestärkt von Roastbeef mit Spätzle und Veggie-Maultaschen mit Kartoffelsalat begeben sich die Abgeordneten am Nachmittag noch einmal in den Plenarsaal, um der Bekanntgabe und Vereidigung der Minister beizuwohnen. Auf Kretschmanns Platz liegt eine dünne schwarze Mappe mit der Liste. Strobl, Sitzmann, Eisenmann . . . die Namen und Funktionen sind bekannt. Auch dass die Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Gisela Erler, erneut Stimmrecht im Kabinett erhält, teilt der Regierungschef mit. Was im Umkehrschluss bedeutet: Die acht übrigen Staatssekretäre haben kein Stimmrecht.

Den Zuschnitt der Ressorts teilt Kretschmann ebenso mit und erwähnt in dem Zusammenhang auch, dass der Themenbereich Tourismus dem Justizministerium zugeordnet werde. Das Protokoll müsste an dieser Stelle sinngemäß vermerken: Hämisches Lachen bei der SPD. So schnell ändert sich im Parlament die Rollenverteilung.

Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) vereidigt schließlich auch die Minister: „Viel Erfolg! Ich hoffe, dass Sie alles geben zum Wohl des Landes“, gibt sie einigen Ministern mit auf den Weg und weckt damit Heiterkeit. Sie ist anscheinend nicht nur die erste Frau und Migrantin auf diesem Sitz, sondern auch die erste, die etwas gegen steife Formelhaftigkeit hat.

Ein kleine Begebenheit am Rande fällt aufmerksamen Beobachtern dann doch noch auf: Als Wissenschaftsministerin Theresia Bauer die Eidesformel ohne den Zusatz „So wahr mir Gott helfe“ spricht, hört man aus den Reihe der Christdemokraten ein unwilliges „Oh“. Ein paar schütteln auch den Kopf. Vielleicht ist ja wirklich höherer Beistand nötig, damit die grün-schwarze Koalition zusammenbleibt zum Wohl des Landes arbeitet.