Neue Sachbücher über Identitätspolitik Wie woke müssen wir sein?

Linke, aber auch Rechte instrumentalisieren den Vorwurf des Antisemitismus in ihrem Sinne: Aufkleber der Antifaschistischen Aktion in Berlin-Neukölln. Foto: Imago/Ipon/Imago

Eine linke Identitätspolitik bestimmt die aktuelle Debattenkultur und hebelt den Universalismus aus, der auf Gleichbehandlung zielt. Zwei Essayisten, die Autorin Eva Menasse und der Kultursoziologe Bernd Stegemann, finden in ihren Sachbüchern gute Argumente gegen den Trend.

Kann man in Deutschland seine Meinung noch frei sagen? Man solle lieber vorsichtig sein, finden laut einer Umfrage 44 Prozent der Deutschen. Dass man öffentlich nicht mehr alles sagen könne, ist schon lange ein beliebtes Topos in rechten politischen Kreisen. Bisher vermochte man dem entgegenzusetzen: Man könne fast alles sagen, müsse aber mit den Konsequenzen leben. Solange sich inkriminierten Äußerungen jenseits der Grenzen zivilisatorischer Umgangsformen bewegten, war das ein überzeugendes Argument. Schließlich gibt es Formen der Beleidigung, bei denen es angebracht ist, dass man sie nicht frei von Konsequenzen hinausposaunen kann.

 

Aber die Bedingungen haben sich geändert. Der Furor einer linken (und rechten) Identitätspolitik ächtet (mit Shit-Sturm) inzwischen jede Abweichung von der vorgegebenen Diskurslinie. Die Stichworte dazu lauten Wokeness und, gleichsam spiegelbildlich, Anti-Wokeness – Begriffe eines Kulturkampfes, der aus der politischen Sphäre längst in Kultur- und Kunstkreise hinübergeschwappt sind.

Der fatale Vorwurf der Diskriminierung

Wie oft, wenn etwas in Fanatismus endet, meinten es ihre Erfinder anfangs nur gut. Wokeness bedeutet Wachsamkeit – gegen alle Formen offener und versteckter Diskriminierung, also gegenüber Alltagserfahrungen von Rassismus, Homophobie, Transfeindlichkeit oder Antisemitismus. Dass es solche realen Erfahrungen gibt, vermag niemand begründet zu bestreiten.

Wer sich solch diskriminierender Vergehen schuldig machte, sollte – auch das nicht ganz zu Unrecht – sozial geächtet werden. Recht bald erkannten allerdings einige Betroffene: Hier wurde ein ziemlich scharfes Schwert geschmiedet. Mit dem Vorwurf der Diskriminierung lässt sich Diskurshoheit erlangen, weil jeder Widerspruch die Betroffenen noch mehr zu Opfern macht.

Universalismus ist out

Dazu war eine Verschiebung des Referenzrahmens notwendig. Der klassische Kampf gegen die Diskriminierung zielte auf Gleichbehandlung: zum Beispiel die „Ehe für alle“ statt nur für heterosexuelle Paare oder dass Hautfarbe und soziale Herkunft keine Rolle spielen sollten. Wenn etwa beim Vorspielen für eine Position in einem Orchester die Musizierenden hinter einem Paravent nicht zu identifizieren sind, haben Frauen eine größere Chance – offenbar bevorzugten die Auswahlkommissionen (bewusst oder unbewusst) Männer. Ziel der klassischen Antidiskriminierungspolitik war also die Blindheit gegenüber dem diskriminierenden Merkmal. Der philosophische Begriff dafür lautet Universalismus.

Debatten werden zu Kämpfen um die rechte Moral

Dieser Universalismus ist bedroht durch die neue Identitätspolitik. Im Gegensatz zum Universalismus sollen Menschen nicht im Prinzip gleich behandelt werden (ungeachtet der Unzulänglichkeiten, die im Alltag ohne Zweifel weiter bestehen), sondern einige erhalten aufgrund ihrer Merkmale einen besonderen Schutzstatus – dessen Umfang und Anwendung alleine die Betroffenen bestimmen dürfen.

Wer sich angegriffen fühlt, erreicht damit zwei Dinge zugleich: Er wird unhinterfragt zum Opfer, und er versetzt sich moralisch ins Recht. Dadurch werden Debatten zu Religionskämpfen um die rechte Moral, statt ein Ringen um das bessere Argument zu sein. „Identitätspolitischer Aktivismus bedeutet, die Bereitschaft zum Kompromiss als Verrat an der eigenen Mission zu werten, und die Möglichkeit, dass das Gegenargument recht haben könnte, als Beleidigung der eigenen Wahrheit abzulehnen“, warnt der Kultursoziologe und Dramaturg Bernd Stegemann in einem Essay. Das kann zu den absurdesten Auswüchsen führen: An einer südkalifornischen Universität wurde ein Chinesisch-Professor gemaßregelt, weil er mehrfach ein Wort in Mandarin benutzte, das so viel wie „ähem“ bedeutet. Es klingt allerdings so ähnlich wie das rassistische N-Wort auf Englisch. Einige schwarze Studierende fühlten sich dadurch verletzt.

Welche Identitäten zählen mehr – die der Juden oder die der Palästinenser?

Der Krieg zwischen Israel und der Hamas in Gaza manövriert nun die linke Identitätspolitik in heftige Turbulenzen. Das musste die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse erfahren. Sie ist die Tochter eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter und hat einen Roman über ihre jüdische Familiengeschichte geschrieben. Lange galt sie deshalb als moderne jüdische Intellektuelle. Allerdings steht sie der israelischen Palästinenserpolitik sehr kritisch gegenüber – und ist daher angeblich nicht wachsam genug gegenüber einem linken Antisemitismus. In ihrem jüngsten Essaybuch „Alles und nichts sagen“ beharrt Menasse darauf: „Alle Anstrengungen müssen sich gegen mörderische rechte Verschwörungen und den fürchterlichen Judenhass im Internet richten; sogenannter linker oder kultureller Antisemitismus ist nicht die Priorität, wenn es um Leib, Leben und Sicherheit geht.“

Die Rechtsextremen profitieren

So geriet die Autorin in den sozialen Medien ins Kreuzfeuer. Das Dilemma der identitätspolitischen Perspektive lautet nämlich: Welche Identitäten zählen mehr? Die der Juden? Die der Palästinenser? Die der deutschen Gesellschaft? Ist eine propalästinensische Haltung automatisch antisemitisch? Ist Israelkritik unmoralisch – oder besonders moralisch? Wer darf sich wodurch angegriffen fühlen? Mit Genuss kapern inzwischen sogar eindeutig antisemitische Rechtsextreme die linke identitätspolitische Debatte und bedienen sich des Antisemitismusvorwurfs gegen ihre Gegner. Dieser argumentative Clou verheißt für die Zukunft nichts Gutes. Das Aushebeln des Universalismus durch linke Identitätspolitik nutzt am Ende am meisten jenen mit einer ungebrochen rechtsextremen Identität.

Eva Menasse: Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne. Kiepenheuer & Witsch, 190 Seiten, 22 Euro. Die österreichische Autorin betrachtet Identitätspolitik unter dem Blickwinkel einer durch die entgrenzenden sozialen Medien gestörten öffentlichen Debatte.

Bernd Stegemann: Identitätspolitik. Matthes & Seitz, Berlin. 112 Seiten, 12 Euro. Der Autor kommt aus der linken Ecke und verteidigt den Universalismus gegen die Selbstermächtigung durch (linke) Identitätspolitik.

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