Einmal im Monat geht die Stuttgarter Zeitung mit Prominenten aus Politik, Sport, Wirtschaft oder Kultur an Ausgangspunkte zurück. Den Anfang macht der Turn-Olympiasieger und Sportler des Jahres Fabian Hambüchen, der nach Wetzlar in eine Schulturnhalle geladen hat.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Peter Stolterfoht (sto)

Wetzlar - Es ist ein besonderer Moment, nicht nur für Fabian Hambüchen selbst. Auch für viele, die ihn in diesem Moment sehen: den gerade zum Sportler des Jahres ausgezeichneten Turn-Olympiasieger von Rio de Janeiro. Der früher in der Öffentlichkeit oft sehr forsch wirkende Hambüchen steht angesichts seiner letzten großen Auszeichnung in diesem Jahr fast demütig auf der Bühne im Kurhaus von Baden-Baden. Er macht einen tief bewegten Eindruck, weil ihn die deutschen Sportjournalisten auf Platz eins gewählt haben – vor dem Triathleten Jan Frodeno und dem Formel-1-Weltmeister Nico Rosberg. „Danke“, sagt Fabian Hambüchen. „Vielen Dank.“ An dieser Stelle verabschieden wir uns aus dem pompösen Benazet-Saal des Baden-Badener Kurhauses und schalten um – und sehen ein Kontrastprogramm.

 

Geehrt werden Sportstars in dem mit rotem Teppich dick unterlegten Glitzerambiente, gemacht werden sie aber oft in betonlastigen Zweckbauten unter Neonröhrenlicht. Zum Beispiel in der Turnhalle der August-Bebel-Gesamtschule in Wetzlar, wo einen Fabian Hambüchen nur wenige Tage vor der Sportler-des-Jahres-Gala zu einer Ortsbegehung der ganz besonderen Art erwartet.

Auf dieser weitläufigen Schul- und Sportanlage, wie es sie hundertfach in Deutschland gibt, begann vor mehr als 25 Jahren eine große Turnerkarriere, die im Sommer mit dem Olympiasieg am Reck und am Sonntag abschließend mit der Sportlerwahl gekrönt wurde.

Ein ganz besonderes Vater-Sohn-Verhältnis

Zurück auf Anfang heißt es jetzt für den 29-Jährigen in dieser unauffälligen Turnhalle. Gleich nebenan rauscht die Lahn vor sich hin, während der Fußballrasen des SC 1923 Niedergirmes erstarrt unter einer feinen Raureifschicht liegt. Alles sehr beschaulich. „Hier bin ich aufgewachsen“, sagt Fabian Hambüchen über das in viele Teilorte versprengte Wetzlar, 70 Kilometer nördlich von Frankfurt.

„Vadder, bist du eigentlich auch da?“, ruft Fabian Hambüchen im Eingangsbereich der Sporthalle. Wolfgang Hambüchen arbeitet hier noch häufig in seiner Funktion als hessischer Landesturntrainer. „Anwesend“, kommt die Rückmeldung aus dem Übungsleiterraum, wo sich der Vater gerade mit Büroarbeit aufhält. Im Hause Hambüchen scheint die Kommunikation auch ohne viele Worte zu funktionieren.

Es ist ein eingespieltes Vater-Sohn-Team, das 2007 in Stuttgart den Weltmeistertitel und in Rio neun Jahre später auch die olympische Goldmedaille am Reck geholt hat. Fabian Hambüchen lässt seine Karriere gerade in der Bundesliga ausklingen, nachdem er die internationale Laufbahn nach Rio für beendet erklärt hat. Wolfgang Hambüchen will in zwei Jahren in Rente gehen und sich bis dahin verstärkt um den Nachwuchs kümmern: vor der Haustür, dort wo sein zweitgeborener Sohn mit dem Turnen in Kontakt gekommen ist. Die Sporthalle der August-Bebel-Schule war über viele Jahre ihr gemeinsames Wohnzimmer.

„Ich war vielleicht zwei Jahre alt, als ich das erste Mal in dieser Halle war“, erzählt Fabian Hambüchen, „damals sah es hier aber noch anders aus.“ Reck und Sprungtisch machen einen nagelneuen Eindruck in einem Raum, der im Lauf der Zeit zum Olympiastützpunkt aufgestiegen ist. Auf die Wand ist ein Goofy gemalt, der am Barren turnt. Es soll freundlich wirken, kinderfreundlich. „Ist auch neu dazu gekommen, die Bemalung“, sagt Fabian Hambüchen, der irgendwann den Spitznamen „Turnfloh“ verpasst bekommen hat. Was bei näherer Betrachtung irreführend ist. Mit 1,63 Meter ist er zweifellos turntypisch klein, aber alles andere als eine halbe Portion, vielmehr ist Hambüchen muskulös, kompakt, durchtrainiert. Ihn wirft nichts so leicht um.

Mit fünf gelingt der Doppelsalto vom Kasten

Und er ist mutig. „Ich bin hier ja schon quasi mit Pampers aufs Trampolin“, sagt Fabian Hambüchen. Er sollte eigentlich nur zuschauen, wie sein Vater den vier Jahre älteren Bruder Christian trainiert. Die passive Rolle ist aber nichts für jemanden mit einem ausgeprägten Bewegungsdrang.

Als ihm mit fünf Jahren ein Doppelsalto vom Kasten gelingt, ist eigentlich schon klar, dass hier einer turnt, der über Wetzlar hinaus bekannt werden wird. „Ich war immer ein Draufgänger, egal ob beim Turnen, Skateboard- oder Schlittenfahren“, sagt Fabian Hambüchen, der mittlerweile zusammen mit seiner Freundin Marcia in Koblenz wohnt und in Köln Sport studiert, aber immer wieder in seiner Halle in Wetzlar trainiert. Später will er noch seine Mutter besuchen, eine Kölnerin durch und durch. Der war es wichtig, dass auch der Sohn im Rheinland zur Welt kommt. Obwohl die Familie schon in Hessen lebte, wo Wolfgang Hambüchen eine Trainerstelle erhielt, wählte seine Frau ein Krankenhaus in Bergisch Gladbach als Geburtsort. Der mütterliche Plan ging jedenfalls auf. Fabian Hambüchen ist nicht nur großer Fan des 1. FC Köln, sondern auch Ehrenmitglied des Fußball-Bundesligisten.

Heimatgefühle, die bekommt Fabian Hambüchen auch, wenn er über den Ort spricht, an dem seine Karriere begann: „Ich habe sogar eine Zeit lang gleich neben der Halle hier gewohnt, in einer Turner-WG zusammen mit Fabian Lotz.“ Fabian Lotz ist der beste Freund von Fabian Hambüchen: „Wir haben in der Kindheit und Jugend viel Zeit miteinander verbracht. Nicht nur in der Turnhalle, wir haben auch Fußball zusammen gespielt und besonders gern Tischtennis, stundenlang. Irgendwie haben wir immer den Wettbewerb miteinander und gegeneinander gebraucht.“

Mit 16 Jahren fällt der Freund bei einer Übung auf den Kopf und bricht sich dabei den Halswirbel. Er turnt trotz Schmerzen weiter. Die lebensgefährliche Verletzung wird erst zwei Jahre später diagnostiziert und dann behandelt. „Seitdem sind wir noch enger befreundet“, sagt Fabian Hambüchen über den Mann, der ein paar Tage später in Baden-Baden die Laudatio auf ihn halten wird.

Warten auf das Rio-Reck

Hambüchens Blick fixiert plötzlich einen Punkt in der Halle: „Hier müsste eigentlich schon lange mein Reck stehen.“ Sein Reck. Das ist das Turngerät, an dem Fabian Hambüchen am 16. August in Rio de Janeiro olympisches Gold geholt hat, nach Bronze in Peking und Silber in London. Der Hersteller hat es ihm geschenkt, und Hambüchen will es aus alter Verbundenheit in seiner Heimathalle aufstellen lassen. „Wahrscheinlich lagert das Reck immer noch in irgendeinem brasilianischen Hafencontainer.“ Man merkt es dem bisher so entspannten Fabian Hambüchen an, dass ihn das Thema umtreibt. Er möchte diesen weiteren Beweis seines Erfolges jetzt endlich haben. Verbindet er doch so viel damit. Auch Schmerzen und eine große Ungewissheit. Vor einem Jahr verletzte er sich im Training an seiner ohnehin schon seit längerer Zeit lädierten Schulter. Seine Teilnahme an den Spielen 2016 ist danach lange ungewiss. Und dann doch noch olympisches Gold am Karriereende – in einer Sportart, die auch ohne Verletzungen sehr schmerzhaft sein kann.

In der Erfolgsgeschichte des Fabian Hambüchen spielt neben Rio eine andere Stadt eine wichtige Rolle. 2007 wurde er in Stuttgart Weltmeister am Reck. „Die nicht zu überbietende Stimmung in der Halle hat den Titel für mich zum emotionalen Höhepunkt gemacht. Rio war für mich dann eher der perfekte Abschluss der Karriere“, sagt Hambüchen, der bei Olympia nicht wie in Stuttgart vom Publikum zum Sieg getragen wird, sondern sich den Erfolg vielmehr mit aller Kraft selbst erkämpfen muss. Mit seinem Vater an der Seite. „Wenn man so viel Zeit miteinander verbringt, wird daraus schon ein ganz besonderes Verhältnis“, sagt der Sohn. Bruder Christian, der Lehrer in Gießen ist, habe wiederum eine engeres Verhältnis zur Mutter. Bei der will Fabian Hambüchen jetzt vorbeischauen. Gerüchteweise hat sie einen Eintopf gekocht.

So sieht die kurzfristige Planung von Fabian Hambüchen aus. Mittelfristig will er sein Studium abschließen und dann möglicherweise eine in Hessen verbreitete Kombistelle als Lehrer und Trainer antreten. Denkbar sei es aber auch, in die Agentur seines Fellbacher Managers Klaus Kärcher einzusteigen.

„Vadder, bist Du noch da?“, ruft Fabian Hambüchen beim Rausgehen in Richtung Trainerzimmer. Keine Antwort. Er wollte ihm eigentlich nur kurz mitteilen, dass er sich gerade dazu entschlossen habe, am Nachmittag ein bisschen in dieser Sporthalle zu trainieren – dort, wo alles begann.