Keine gewöhnliche Wohngemeinschaft ist das, die sich in der neuen Varieté-Produktion auf dem Pragsattel um einen Küchentisch schart: Artisten aus aller Welt zeigen in „Tollhouse“ ihre spektakulären Talente.

Stuttgart - Das kann ja heiter werden. „Preußisches Entertainment“ kündigt der Moderator namens Hieronymus bei der Premiere des neuen Programms „Tollhouse“ im Stuttgarter Varieté an. Und das, so begreift man rasch, ist keine leere Drohung. „Haben Sie das verstanden?“ bellt er ins Publikum, wenn dessen Auffassungsgabe seiner Meinung nach mal wieder nicht schnell genug ist, der Lacher eines Besuchers wird mit „Weiß das der Heimleiter, dass Sie heute abend hier sind?“ quittiert. Wenn es so etwas wie impertinenten Charme gibt, dann beherrscht ihn dieser Herr mit dem übergroßen Zylinder jedenfalls ziemlich gut. Und dass Hieronymus’ fein dosierte Unverschämtheiten vom Publikum im Laufe des Abends mit wachsendem Vergnügen goutiert werden, hat wohl auch damit zu tun, dass sich der Zuchtmeister bei seinen Einlagen mit allerlei Spielkarten und Würfeln auch als begabter Taschenspieler erweist.

 

Zauberei ist eine Zutat eines typisches Varieté-Menüs. Die anderen sind Comedy und Artistik, und gerade was letztere anbelangt bietet dieses Programm Spektakuläres. Wie der Auftritt von The Amazing Other, wie sich das Artistenduo aus dem Norweger Eivind Øverland und der Dänin Lalla La Cour nennt. Die kamen auf die Idee, eine Trapeznummer mit einer Wrestlingshow zu verbinden, bei der sich in beträchtlicher Höhe ein bärtiger Grobian im Wikingerlook und eine Kampfamazone abwechselnd in die Weichteile treten und sich im Duett durch die Luft schwingen.

Pas de deux mit einem Skelett

Fliegen können, der ewige Traum. Tatsächlich besteht ein großer Teil der Anziehungskraft von Zirkus und Artistik schon immer darin, die dem Menschenkörper gesetzten Grenzen zu überschreiten und die Gesetze der Schwerkraft zumindest in der Illusion aufheben zu können. Helena Jans heißt da die muskelbepackte Lady, die sich scheinbar schwerelos mit Hilfe zweier Stoffbänder um die eigene Achse drehen kann und dabei so anmutig wirkt. Im zweiten Teil des Programms hat sie sich einen Kompagnon auf die Bühne geholt, ein klappriges Skelett namens Oscar. Nach einem Präludium auf dem Sofa schwingt sie sich mit dem Knochenmann in die Höhe und die beiden tanzen, begleitet von romantischer Musik, einen Pas de deux der Lüfte.

Ob man das nun poetisch oder kitschig findet, dürfte Geschmackssache sein. Spätestens hier zeigt sich aber ein grundsätzliches Problem, vor dem ein Regisseur wie Ralph Sun bei der Planung eines solchen Abends steht. Denn die Artisten sind ja nicht am Haus engagiert, sondern touren mit ihren Programmen um die Welt. Um den Eindruck eines bloßen Potpourris zu vermeiden gilt es also, die meist fest konzipierten Acts in einen thematischen Rahmen einzubinden. Auftretende Ecken und Kanten können gegebenenfalls moderativ geglättet werden.

Meister im Hoop Diving

Für „Tollhouse“ hatte Ralph Sun die Idee, die zehn Künstler als Mitglieder einer Wohngemeinschaft in ein dezent heruntergekommenes Wohnungsambiente zwischen Sofa und Küche zu stellen – was mal besser, mal weniger gut funktioniert.

Wenn Hieronymus die gänzlich ironiefreie Luftnummer von Helena und Oscar mit den Worten abmoderiert, das Skelett sei ein „ehemaliger WG-Bewohner“, ohne dessen Rente „man sich das alles nicht leisten könnte“, knirscht es vernehmlich im dramaturgischen Getriebe. Was dann aber insofern nicht nachhaltig stört, als die meisten Künstler allein für sich überzeugen. Kai Hou, der 2018 auch in der RTL-Show „Supertalent“ zu sehen war, ist ein Meister in der Disziplin des Hoop Diving: Mit einem Anlauf springt der Chinese wie eine Art menschlicher Gummiball rückwärts durch einen in zwei Meter Höhe gehaltenen Reifen – und wer das nicht gesehen hat, kann es kaum glauben, zumal Hou, anders als die Hochspringer der Leichtathletik, von eher kleiner Statur ist.

Man mag sich lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Hou - der auch den Guinessrekord im Rückwärtssalto hält: fünfzig in einer Minute – mal den Reifen verfehlen würde.

Das Duo Strange Comedy bringt alle zum Glucksen

Da bewegt sich Taras Nadtochii, ebenfalls ein ehemaliger „Supertalent“-Kandidat, in sichereren Gefilden, wenn er die Beine derart hinterm Kopf verschränkt, dass er sich mit dem Schuhabsatz am Ohr kratzen könnte. So spektakulär das ist, Ähnliches hat man doch schon etliche Male gesehen, ebenso wie die Jonglagen mit Hüten und Keulen, die Guillermo León neben einigen durchwachsenen Comedyeinlagen zeigt.

Wirklich lustig zu sein, das zeigen auch die etwas platten Auftritte von Faeble Kievman als dickem Quatschkopf, ist eben gar nicht so einfach. Am besten gelingt es an diesem insgesamt unterhaltsamen Abend dem fabelhaften Duo Strange Comedy. Shelly Kastner und Jason McPherson, die auch privat ein Paar sind, ironisieren dabei das klassische Duo „Artist und Assistentin“ auf so poetische wie witzige Weise, dass man aus dem Glucksen gar nicht mehr herauskommt. Das ist großes Können, gepaart mit dezentem Understatement. Die beiden würde man in jeder WG gerne als Mitbewohner haben.