Der britische Komiker Ricky Gervais ist zurück: In der sechsteiligen Serie „After Life“ bei Netflix spielt er einen verbitterten Kleinstadtjournalisten, der allen die ungeschminkte Wahrheit sagt.

Stuttgart - Jedes größere Büro hat einen Stinkstiefel vom Dienst. Aber kaum ein Büro hat einen Stinkstiefel wie Tony (Ricky Gervais), der frustriert beim Anzeigenblättchen „Tambury Gazette“ in der englischen Provinz arbeitet. Diese Hauptfigur in der Netflix-Sitcom „After Life“ ist konsequent unfreundlich, zynisch, misslaunig, und das auf eine besonders unangenehme Art.

 

Tony wird nicht irgendwie ausgefallen böse, er bleibt einfach immer bei der Wahrheit. Er lässt soziale Floskeln und Beschönigungen weg, pfeift auf Schmeicheleien und tritt alle Pro-forma-Nettigkeit mit Füßen. Seit seine Frau gestorben ist, sagt er, was er denkt, sieht, fühlt.

Die Schwächen anderer

Der verbitterte Witwer bringt die Schwächen anderer zur Sprache, den Unfug des Small Talks, und die tröstlichen kleinen Lebenslügen ringsum lässt er platzen, als habe er gar keine andere Wahl, als sei er ein angewurzelter Kaktus, gegen den ein starker Wind den Luftballon eines Kindes weht. Am allerwenigsten kann Tony sich selbst ertragen.

Er ist also doch ein ganz anderer Typ als der kleine Bürowallach David Brent aus „The Office“, mit dessen genialer Darstellung Ricky Gervais 2001 seinen Durchbruch hatte – und der dann Pate stand für „Stromberg“. Der großmäulige Brent hat sich auf schräg lustige Weise ständig selbst überschätzt. Der verbitterte Tony hasst sich. Eigentlich will er sich umbringen, aber er hat noch einen Hund zu versorgen.

Mobbing und Idylle

Dieser Depressive, der eigentlich zum Abschalten gruselig ist, wird von „After Life“ in eine Kleinstadt gesetzt, in der die Schrecken der Realität von Elementen der Idylle ausbalanciert werden. Tonys Vater hockt dement im örtlichen Altenheim. Aber es gibt eine sehr nette Altenpflegerin, die den betagten Herrn umsorgt.

Als Austräger der „Tambury Gazette“ arbeitet ein frustrierter Junkie, der in einer Garage haust und nicht mehr leben möchte, aber er bekommt Unterstützung von Roxy (Roisin Conaty), der archetypischen Prostituierten mit dem goldenen Herzen. Auch wenn sie einen für diese Formulierung anschnauzen würde: „Sexarbeiterin!“.

Es gibt Schulmobbing und Raubüberfälle am hellen Tag, aber auch so nette Ecken der Stadt, dass diese bösen Erscheinungen nicht wie die Norm wirken, sondern wie eine Fehlfunktion, die sich mit ein wenig gutem Willen beheben lassen müsste.

Merh als bloß Einzelgags

Man könnte „After Life“ leicht für eine – lustige – Nummernrevue halten. Vor allem, wenn wir Tony durch seinen absurden Journalistenalltag begleiten, wenn Menschen etwa möchten, dass er über den Wasserfleck an ihrer Wand berichten, der haargenau wie Kenneth Branagh aussehe.

Aber es geht eben nicht nur um Einzelgags; es geht um die Frage, wie ernst Tony es mit seinen Selbstmordabsichten meint und wofür er eigentlich Hilfe sucht: Zum Sterben oder doch zum Leben?

Dass „After Life“ an echten Orten gedreht wurde, dass es die altmodisch wirkenden kleinen Lädchen rund um einen Dorfplatz wirklich noch gibt (die stehen in der Realität in Hemel Hempstead, das keine 40 Kilometer von London entfernt liegt), scheint eine Aussage zu transportieren: Die Welt ist tatsächlich besser als Tony sie wahrnimmt, das ist keine Drehbuchlüge.

In der sechsten und letzten Folge fällt die Entscheidung, und dass es eine positive ist, lässt ahnen, dass der oft ungemütliche Gervais (der hier Produzent, Autor, Regisseur und Hauptdarsteller ist) wieder näher ans Mainstream-Publikum heranrücken möchte. Aber so ganz traut man dem Frieden nicht: Würde Tony der Frau, die ihn hier aus dem Sumpf zieht, wirklich alles beichten, was er zuvor getan hat, sie würde ihn sofort wieder verlassen.