In der Stadtbahn sitzen Menschen zusammen, die sich sonst nicht begegnen würden – und einander doch aushalten müssen. Dabei geht es bei weitem friedlicher und meist auch respektvoller zu, als es die Schlagzeilen erahnen lassen.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Wenn das nicht echte Sehnsucht war. In Wien hat in der vergangenen Woche ein ehemaliger und geschasster Straßenbahnfahrer eine Straßenbahn gekapert. „Das ist eine Sonderfahrt, niemand einsteigen“ oder etwas in der Art soll er durchgesagt haben, bis man ihm nach zwei Uhr nachts den Strom abdrehte und das Tête-a-Tête sein Ende fand. Eine Fahrt mit der Straßenbahn kann – wenn auch wie in diesem Fall nur für kurze Zeit – glücklich machen und höchst inspirierend wirken. Sie ist nicht nur pure Zumutung, wie es die Meldungen über zunehmende Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln suggerieren. Die Bahn ist Teil des öffentlichen Raums.

 

Straßenbahnfahren ist aus dieser Perspektive wie ein wilder Ritt durch die gegenwärtige Gesellschaft. Die Bahn kann ein Ort des Aufeinandertreffens sein, wenn wir es zulassen. Das ist in Zeiten der – wie es oft heißt – Sprachlosigkeit und des fehlenden Dialogs zwischen den Milieus, nicht die schlechteste Betrachtungsweise. Denn wenn nicht geredet wird, dann wird zumindest viel gelauscht, geschaut und unweigerlich wahrgenommen. Das könnte ein Anfang für mehr sein.

Mit Inklusion haben wir es noch nicht so

Zwei Zufallsbeobachtungen also: Feierabendzeit. Ein Mann um die 50, graumeliertes Haar, akkurat geschnitten. Gut sitzender, nicht ganz billiger Anzug. An der gepflegten rechten Hand glänzt ein Eherring. Der Mann versendet Nachrichten von seinem Smartphone. An guten Tagen könnte man ihn für den etwas kurz geratenen Cousin George Clooneys halten. Doch heute ist kein guter Tag. Er sitzt dort, wo Entscheider sitzen: Ganz vorne an der Tür. Einer wie er bahnt sich nicht den Weg durch die Menge. In der Straßenbahn heißt ganz vorne aber auch: er sitzt auf dem Platz, der für Menschen mit Behinderung oder für Eltern mit Kinderwagen vorgesehen ist.

Das kümmert ihn nicht. Es stört ihn auch nicht, als ein Mann mit amputiertem Unterschenkel auf Krücken die Bahn betritt. Dieser Mann, knapp über 20, Migrationshintergrund, bleibt zögerlich stehen, spürbar verunsichert lehnt er sich an. Der adrette Fiftysomething rührt sich nicht, schaut weiter auf sein Telefon. Der Mann mit Krücken nickt schüchtern, als ihn andere, ebenfalls stehende Fahrgäste fragen, ob er sitzen wolle. Der Graumelierte macht keine Anstalten, seinen Platz zu räumen, als ihn die Fahrgäste darum bitten. „Da ist Platz“, sagt er und deutet mit einer wegwerfenden Geste auf einen leeren Sitz, weit weg von der Tür und mit Krücken in der jetzt bereits fahrenden Bahn nur schwer zu erreichen. Es entwickelt sich ein erhitzter Disput zwischen einzelnen Fahrgäste und dem graumelierten Mann. Resultat: Er bleibt sitzen und der Mann mit Krücken hält sich im Hintergrund, wie er es vielleicht oft tut. Nein, mit Inklusion haben wir es wirklich nicht so. Da können wir noch besser werden. Das merkt auch die blinde Frau, die im Gedränge aufsteht, ihren Hund im Geschirr, und in die Menge fragt: „Steigen hier alle aus?“ Die Antwort ist Schweigen. Immerhin: zuvor durfte der tierische Helfer sein Kinn auf dem Oberschenkel des fremden Gegenübers ablegen und wurde nett gestreichelt. Geht doch.

Über was in der Stadtbahn so gesprochen wird? Wir haben hingehört

Der tägliche Stress in der Straßenbahn? Keine Frage, die Verrohung macht vor der Bahntür nicht halt. In den späten Abendstunden ist die Fahrt weniger wohlig als am hellen Tag. Unter den Sonntagnachmittagsausflüglern ist besser Sein als zwischen den testosterongeleiteten Alles-Checkern. Aber dennoch spiegelt, was wie eine durchdachte Inszenierung gesellschaftlicher Interessensgegensätze erscheint, nicht die tägliche Konfliktlage in der Straßenbahn.

Eine Reise durch die Gesellschaft

Gegenbeispiel zum Clooney-Klon. Gleiche Strecke, diesmal ein düsterer Wintermorgen. Alle sind auf dem Weg zur Arbeit, in die Schule, auf ein Amt oder zu einer wichtigen ärztlichen Untersuchung. Letztere erkennt man an dem stieren Blick und den großen Umschlägen mit den Röntgenaufnahmen. Die Straßenverhältnisse sind schlecht, die Bahn ist voll. Es gibt nur noch Stehplätze. Jeder, der es nicht schafft einzusteigen, macht die Fahrt für diejenigen angenehmer, die schon drin sind. Und dennoch drückt irgendjemand in letzter Sekunde den Knopf, und die Tür öffnet noch einmal für einen Heranhastenden. Einer geht noch. Die Bahnfahrer, die von der Peripherie der Großstadt ins Zentrum gebracht werden, halten solidarisch die Luft an. Es könnte an einem anderen Morgen ja sie selbst treffen. Neben der Tür sitzt ein alter Mann auf seinem zur Sitzmöglichkeit umfunktionierten Rollator. Wie ein Fahrstuhlführer weist er dem Eilenden einen Platz zu, auch wenn der eigentlich gar keine Auswahl hat. Irgendwo ganz nah an der Tür, aber so, dass sie noch zu geht. Der Mann lächelt. Wir trotzen der Unbill – gemeinsam, sagt sein Gesichtsausdruck. Das Gefühl, einer Schicksalsgemeinschaft auf Zeit anzugehören, entspannt die Gesichtszüge der Stehenden. Sie haben soeben eine stille Übereinkunft geschlossen. Das Befreiende an der Enge. Alle wissen: sie ist nicht von Dauer. Das kann man aushalten.

Ist die Straßenbahn also eine Sonde, mit Hilfe derer man sich ins Innere der Gesellschaft bohren kann? Ist die Fahrt mit ihr so etwas wie ein Lackmustest für das Miteinander? In der Straßenbahn wird nicht offen politisiert und doch kann man in ihr das Gemeinwesen besichtigen. Nicht in der S-Bahn und auch nicht in den ICEs ist das möglich, vielleicht im Bus. Denn anders als bei den großen Überland-Zugfahrten, bei denen man sich aufmacht in eine neue Wirklichkeit und zum Alltag oft auf mehrere hundert Kilometer Distanz geht, also für einen Tag die Chance auf einen winzigen Neuanfang hat, lohnt die Fahrt mit der Stadtbahn nicht für eine Maskerade. Hier sind die Reisenden authentisch.

Wir sollten positiv denken

Ob Hoch- oder Niederflurbahnen, die Wagen sind viel mehr als die schnöde Alternative zum Auto oder ein pragmatischer Beitrag zur Luftreinhaltung in den Ballungsräumen. Regelmäßige Fahrten mit der Straßenbahn sind soziologische Proseminare im Schnelldurchlauf. Sie zeigen, wie Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft auf engem Raum und für befristete Zeit miteinander klarkommen. „Erst aussteigen lassen“, wiederholt der Vater den Slogan der Straßenbahnbetriebe lachend und hält seine kleine Tochter davon ab, die Straßenbahn zu stürmen, bevor alle ausgestiegen sind. Respekt ist nicht verschwunden aus dem Miteinander. Denkt positiv!

Es wird viel gelächelt und zugenickt, die Menschen sagen „Danke“, wenn jemand beiseite rutscht, damit sie sich nicht mit Rucksack und Handtasche bis zum freien Platz am Fenster durchzwängen müssen. Und sie entschuldigen sich, wenn sie aus Versehen jemanden anrempeln. Es geht bei weitem friedlicher, einvernehmlicher und meist auch respektvoller zu, als es die Schlagzeilen erahnen lassen. Wenn ein Dutzend Kindergartenkinder samt Erzieherinnen die Bahn entern, sind die Fahrgäste gerührt über so viel Wuseligkeit und Neugierde– und passen gemeinsam auf, dass beim Aussteigen in Richtung Zoo keiner verloren geht. Beim Halt am Krankenhaus sind alle froh, selbst nicht aussteigen zu müssen. Wenn die Bahn am Friedhof hält, halten sie die Luft an, rücken ein bisschen zur Seite – und sind erleichtert, dass sie gerade niemanden zu betrauern haben.

Sei es nur Neugierde oder ein Hauch von unausgesprochener Anteilnahme, in der Straßenbahn denken wir uns in andere Welten und Leben. Das Angebot ist groß bei einer Fahrt einmal quer durch die Stadt. Sie führt von den Quartieren mit den in die Jahre gekommenen Wohnmaschinen vorbei an der Shoppingmall, dem Kunstmuseum, dem Knotenpunkt Bahnhof, der Halbhöhe, dem Businessbezirk und dem Neubaugebiet mit seinen vielen Familien.

Alt trifft jung, vermögend auf nicht so gut gestellt. Biodeutsch auf neudeutsch. Die Bahn nivelliert für einen Moment. Manchmal hält sie den Gästen den Spiegel vor, wenn an einer Haltestelle alle Erwartungen auf den Kopf gestellt werden und der dunkelhäutige Mann in die IT-Firma abbiegt und nicht etwa in das Flüchtlingsheim, das auch an dieser Endhaltestelle steht. Es lohnt sich, wirklich hinzuschauen.

Die Straßenbahn schafft Verbindlichkeiten

Die Schriftstellerin Irmgard Keun schaute 1931, also gegen Ende der ersten deutschen Demokratie, auf die Menschen in der Straßenbahn. In ihrem Roman „Gilgi – eine von uns“ lässt sie eine Büroangestellte den Weg zur Arbeit mit der Bahn zurücklegen. Gilgi liefert eine Beschreibung von Eitelkeiten, Aufstiegswünschen und der Monotonie im Leben der Angestellten. „Müde Gesichter, verdrossene Gesichter. . . Keiner tut gern, was er tut. Keiner ist gern, was er ist. . . Nicht wahr, junger Mann, man kauft sich nicht so eine schöne, strahlend gelbe Krawatte, wenn man nicht heimlich glaubt, eines Tages Chef mit Privatauto und ausländischem Bankkonto zu sein. . . Keine Aussicht auf Wechsel und Unterbrechung? Doch. Welche? Krankheit, Abbau, Erwerbslosigkeit. Aber man fährt ja noch. Ja, man fährt. Wie gut.“ Gilgi nennt diese Menschen die Trostlosen. Unaufdringlicher kann man eine Gesellschaft nicht beschreiben, deren Sehnsucht nach Aufstieg und einem besserem Leben Hitler und seine Partei zu erfüllen versprachen.

Die Berliner Autorin Annett Gröschner durchfährt seit langem jede Stadt, in die sie kommt, mit der Linie Nummer 4. Denn die 4 war die Bahn ihrer Kindheit in Magdeburg. Die Manie ist zum Langzeitprojekt geworden. Demnächst erscheint ihr Buch „Die Städtesammlerin“, das von Hannover bis Buenos Aires Welterkundungen wiedergibt. Auch für Annett Gröschner ist die Straßenbahnfahrt das passende Instrument, um urbane Wirklichkeit „und Welt im Wortsinn zu erfahren“. Wenn man regelmäßig die gleiche Strecke fährt, wisse man irgendwann, „wo die einzelnen Leute aussteigen“. Dann fängt man vielleicht sogar an, einander zu grüßen. Ohne Zweifel, die Bahn schafft Verbindlichkeiten – oder hat zumindest das Potenzial dazu. Das könnte uns zuversichtlich stimmen.

Gemeinsamkeit gestalten

Die Stadtbahn Jerusalem fährt seit 2011 quer durch die Stadt. Sie sollte zum Symbol des Zusammenwachsens werden. Das Projekt wird immer wieder, wie das ganze Land, von Gewalttaten überschattet. Die französische Stadt Straßburg und die deutsche Stadt Kehl werden vom Frühjahr an durch eine Straßenbahnlinie über den Rhein verbunden sein. Das ist einerseits praktisch, gleichzeitig auch eine sehr symbolische Angelegenheit zwischen den ehemaligen Erzfeinden Frankreich und Deutschland.

Doch unabhängig davon, wie erfolgreich das Projekt Straßenbahn sich in der Wirklichkeit bewährt. In einem Verkehrsmittel ohne Schaffner und Aufpasser, einem Ort der Mündigkeit und Eigenverantwortung, hat es das Heer der täglichen Pendler in der Hand, Gemeinsamkeit zu gestalten. Manchmal ist es ein Lächeln, das den Unterschied macht. Nur Mut also.