Die grenzüberschreitende Straßenbahn von Straßburg nach Kehl geht im Frühjahr 2017 in Betrieb – bis dahin will die Stadt ganze Quartiere entlang der Trasse neu gestalten. Federführend dabei: der Stadtplaner und Architekt Alexandre Chemetoff.

Straßburg - Durch das Objektiv seiner Digitalkamera fokussiert Alexandre Chemetoff die neu gebaute Straßenbahnbrücke über den Rhein. Er gleitet an den leuchtend weißen Bögen entlang, hinauf bis zum höchsten Punkt in 20 Meter Höhe. Chemetoff dreht sich weiter, nimmt die Schienen, dann die Arbeiter in Augenschein, die mit letzten Handgriffen zu Gange sind. Der Stadtplaner und Architekt steht an dieser Stelle in der Mitte zwischen Deutschland und Frankreich – und was er sieht, scheint ihm zu gefallen. Denn wo die beiden einst verfeindeten Länder aufeinandertreffen, tut sich so einiges. Im nächsten Frühjahr wird die Straßburger Tram über die Grenze hinweg bis zum Bahnhof von Kehl fahren. Ein Jahr später soll die Linie weiter zum Rathaus führen und damit Kehls Innenstadt erreicht haben. Chemetoffs Gang über die Brücke ist ein Vorgeschmack auf die neue Dimension des Zusammenwachsens in der Grenzregion.

 

Demnächst liegen dann von Kehl aus gesehen Straßburgs Oper, Konzerte, Museen, Geschäfte entweder an der Tram-Strecke oder von ihren innerstädtischen Verbindungen nur noch ein paar Gehminuten entfernt. Die Tram fährt im Zwölf-Minuten-Takt in 20 Minuten aus Straßburgs Zentrum bis Kehl und pausiert nur zwischen 1 und 5 Uhr. Beide Seite werden am Ende insgesamt 107 Millionen Euro investiert haben, der deutsche Anteil liegt bei 42,8 Millionen. Bund und Land haben einen Zuschuss von bis zu 26,2 Millionen Euro zugesagt.

Schon im Vorfeld der deutsch-französischen Landesgartenschau 2004 hatte man bei der Umgestaltung des Kehler Bahnhofsareals die grenzüberschreitende Tram im Hinterkopf. Im Alltag ist die Tram ein unkompliziertes Verkehrsmittel. 40 000 Fahrzeuge überqueren bislang tagtäglich die Europabrücke. Daran haben auch die Terrorgefahr und die täglichen Kontrollen nichts Wesentliches geändert. Bis auf die Tatsache, dass so mancher, der zu den Stoßzeiten über die Brücke muss, häufiger im Stau steht. Fast zwei Drittel der 40 000 Pendler bewegen sich innerhalb des Großraums. Das errechnete Potenzial für künftige Nutzer der Tram liegt also im fünfstelligen Bereich.

Für Kehl wie Straßburg ist die Annäherung via Straßenbahn ein historischer Schritt. Im Januar 1898, als Straßburg deutsch war, war eine Dampfbahn eingeweiht worden. Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs brach auch diese Verbindung über den Rhein ab. Im grenzüberschreitenden Ballungszentrum namens Eurodistrikt Straßburg-Ortenau verspricht man sich von der Tram nicht nur weniger Emissionen, sondern auch mehr Annäherung. Auch weil dort, wo früher Brachland den Ankommenden in Straßburg empfing, unweit der vier Rheinbrücken neue Viertel aus dem Boden gewachsen sind.

Die alten Hafenbecken schaffen Naherholungswert

Mit dem Ausbau der Tramlinie D um zusätzliche 2,7 Kilometer bis nach Kehl erschließt sich Straßburg ein jahrzehntelang kaum genutztes Gelände, ein innerstädtisches Band von 250 Hektar im Süden der Altstadt. Seit etwa 15 Jahren wird das städtebauliche Projekt „Deux Rives“ (zwei Ufer) ungeachtet der Wechsel im Rathaus vorangetrieben. Es ist heute schon ein dichtes Gewebe aus öffentlichen Gebäuden wie dem Musikkonservatorium, dem Stadtarchiv und der Mediathek Malraux, Unterhaltung wie Kino, Einkaufszentrum, Restaurants, sanierten Silos und neuem Wohnraum, in vielen Fällen mit innovativen, umweltfreundlichen Konzepten. Sogar Baugruppen und Parkplatz-Sharing gibt es – für französische Verhältnisse ziemlich revolutionär. Und das Bauen ist noch nicht zu Ende: 9000 Wohnungen sollen bald entlang der west-östlichen Achse Richtung Rhein fertiggestellt sein. Gegenüber der Europabrücke entsteht im Straßburger Rheinhafenviertel zurzeit ein privater, konfessioneller Klinikneubau. Straßburg und Kehl haben an der Schwelle zur Europabrücke schon eine gemeinsame Kinderkrippe eingerichtet.

Die Spuren der Zerstörung durch die Demonstrationen während des Natogipfels im April 2009 sind also längst verschwunden. Kein Zweifel: Entlang der Nationalstraße 4 von Deutschland her kommend sind die hässlichen Baulücken von früher geschlossen. Straßburgs sozialistischer Oberbürgermeister Roland Ries spricht heute gerne von „Straßburg am Rhein“.

Chemetoffs Steckenpferd ist die Arbeit am historischen Bestand

Alexandre Chemetoff, der Stadtplaner, wurde nach Straßburg geholt, weil er einem der vielleicht schwierigsten, stadtgeschichtlich jedoch besonders reizvollen Areale an dieser west-östlichen Entwicklungsachse ein neues Gesicht geben soll. Es geht um das ehemalige Coop-Gelände, den Verwaltungssitz und die verlassenen Produktions- und Lagerstätten einer 2015 liquidierten Supermarktkette. Alexandre Chemetoff, geboren 1950, gilt Spezialisten als einer der wichtigen Stadtplaner unserer Zeit. Berühmt wurde er im Alter von 35 mit einem Bambusgarten in Paris. Sein Steckenpferd ist im Laufe der Jahre jedoch die Arbeit am historischen Bestand geworden. Auch in Straßburg wird das so sein. „Wir machen hier nicht Tabula rasa, sondern arbeiten mit dem, was wir vorfinden und entwickeln es weiter“, sagt Chemetoff.

Vom oberen Geschoss des ehemaligen Verwaltungsgebäudes, in dem sich die Entwicklungsgesellschaft für das Coop-Areal eingerichtet hat, gewinnt man einen guten Überblick über die Gebäude, die auf eine neue Nutzung warten. 1902, in der Zeit des deutschen Kaiserreichs, gründeten 125 Arbeiter den „Konsumverein für Strassburg und Umgebung“. Daraus entstanden Hunderte kleiner und größerer Supermärkte. Viele Waren wurden aus eigener Herstellung vertrieben: Die Coop-Märkte versorgten im Elsass gefühlt so gut wie jedes Dorf. Als Chemetoff das neun Hektar große Gelände zum ersten Mal in Augenschein nahm, ist er auf die unterschiedlichen Bauphasen des 20. Jahrhunderts gestoßen – eine Spielwiese für Visionäre. „Dieser Ort ist eine fantastische Gelegenheit, wir werden daraus etwas Außergewöhnliches machen“, sagt der Architekt.

Der Geist der Kooperative soll weiterleben

Die Weitläufigkeit des Coop-Geländes ist eindrucksvoll, auch wenn auf den 50 000 Quadratmetern nutzbarer Fläche viel Beton verbaut wurde: Bäckerei, Schreinerei, Lagerhallen, lange Rampen, an denen Waren angeliefert wurden. Das Weinlager der Coop mit den noch intakten, innen mit Glasfliesen gekachelten Tanks. Chemetoff steht mit leuchtenden Augen in diesem Raum, der an die Kulisse eines Science Fiction Films erinnert. In den Hangars nebenan sollen Ateliers und Werkstätten kostengünstig und zügig hergerichtet werden. Chemetoff plant eine Brasserie für 1000 zahlende Gäste hinter der monumentalen Glasfront der ehemaligen Brauerei und einen Ausstellungsraum auf 1600 Quadratmetern. Auch die neuen Depots und Restaurierungswerkstätten der Straßburger Museen sollen auf das Coop-Gelände ziehen. „Der Geist der Kooperative ist eine höchst lebendige Idee, die noch heute gut zu uns passt“, sagt Chemetoff. Deshalb will er keine kulturelle Enklave, sondern Wohnen, Arbeiten, Produzieren in einer neuen Gartenstadt am Rhein vereinen. Im Straßburger Stadtrat hat man verstanden, dass ein Verfall des Geländes verhindert werden muss und 22 Millionen Euro für die Sanierung des Geländes bereitgestellt. Und spätestens in 15 Jahren sollen auch die letzten stadtplanerischen Leerstellen vergessen sein: Dort wo eine zweite, für die Fortführung der Tramstrecke nach Kehl notwendige Brücke auf Straßburger Gebiet das so genannte Vauban-Becken überquert, umschließen der Kanal und ein Hafenbecken weiteres Bauland am Wasser, die „Ile de la Citadelle“ und „Starlette“, einen breiten Uferstreifen am Kanal. Auch wenn es gerade in Mode sei, Industriebrachen neues Leben einzuhauchen, sagt Chemetoff: „Wir profitieren von diesem kulturellen Erbe, um den Menschen hier neue Perspektiven zu eröffnen.“