Der frühere „Spiegel“-Journalist Claas Relotius hat Teile von Reportagen frei erfunden. Nun stellt sich die strafrechtlich relevante Frage, ob er auch Spendengelder eingefordert und veruntreut hat.

Hamburg - Nach Bekanntwerden der Betrügereien des „Spiegel“-Reporters Claas Relotius stehen nun auch strafrechtliche Ermittlungen wegen der Veruntreuung von Spendengeldern im Raum. Wie „Spiegel online“ am Wochenende berichtete, soll Relotius von seinem privaten E-Mail-Konto aus Lesern Spendenaufrufe geschickt haben, um angeblich Waisenkindern in der Türkei zu helfen. Das hätten Leser dem Magazin mitgeteilt. Das Geld sollte demnach auf Relotius’ Privatkonto überwiesen werden.

 

„Wie viele Spender sich auf diesen Aufruf meldeten, wie viel Geld schließlich zusammenkam und was mit diesem Geld passierte, ist derzeit noch nicht klar“, schreibt „Spiegel online“. Der Redaktion sei von der Spendensammlung nichts bekannt gewesen. Alle gesammelten Informationen würden der Staatsanwaltschaft „im Rahmen einer Strafanzeige“ zur Verfügung gestellt.

In erheblichem Ausmaß versagt

Der Spendenaufruf stehe im Zusammenhang mit dem Relotius-Beitrag „Königskinder“ über ein vermeintliches syrisches Geschwisterpaar, das in der Türkei auf der Straße lebe. Der Beitrag war am 9. Juli 2016 im „Spiegel“ erschienen. Seine Richtigkeit steht inzwischen wie die vieler anderer Texte von Relotius im Zweifel.

Der „Spiegel“ hatte am vergangenen Mittwoch offengelegt, dass der bisherige Redakteur Relotius im großen Umfang eigene Geschichten manipuliert hat. Er habe die Fälschungen nach internen Nachforschungen zugegeben und das Haus verlassen. Der designierte „Spiegel“-Chefredakteur Steffen Klusmann schrieb an die Leser: „Wir als Macher des ‚Spiegel’ müssen einräumen, dass wir in einem erheblichen Ausmaß versagt haben.“ Relotius sei es gelungen, sämtliche im Haus üblichen Sicherungsmechanismen außer Kraft zu setzen. „Signale und Hinweise, die uns hätten stutzig machen können“, seien nie an einer Stelle gebündelt worden.

Einwände wurden überhört

So habe Relotius die Übersetzer bei verschiedenen seiner Geschichten gebeten, lieber nichts für das internationale Angebot ins Englische zu übersetzen . Wieder an anderer Stelle habe er die Fotokollegen gebeten, ein bestimmtes Foto nicht auf die Website zu stellen, schreibt Klusmann: „Stets hatte er sehr plausible Argumente für sein Ansinnen.“

Wie „Zeit online“ am Wochenende berichtete, hätte Relotius früher gestoppt werden können, hätten seine Vorgesetzten auf hausinterne Einwände gehört. So seien Redakteuren von „Spiegel TV“ im ersten Halbjahr 2017 massive Widersprüche in einer Reportage von Relotius aus dem Nordirak aufgefallen. Sie hätten ihre Rechercheergebnisse ohne Folgen bei Relotius’ Vorgesetzten vorgetragen.

Der US-Botschafter protestiert

Unterdessen warf der US-Botschafter in Deutschland, Richard Grenell, dem Magazin einen anti-amerikanischen Kurs vor, der den Betrug von Relotius begünstigt habe. „Es ist eindeutig, dass wir Opfer einer Kampagne institutioneller Voreingenommenheit wurden“, schrieb Grenell an die Chefredaktion in einem auf Freitag datierten Brief, den der „Spiegel“ öffentlich machte.

Der stellvertretende Chefredakteur Dirk Kurbjuweit erwiderte: „Wir entschuldigen uns bei allen amerikanischen Bürgern“, die durch die Reportagen von Relotius beleidigt und verunglimpft worden seien. Den Vorwurf der Voreingenommenheit wies er jedoch zurück.

Kritik ist kein Anti-Amerikanismus

Mehrere der teils gefälschten Relotius-Reportagen ließen US-Bürger und die Politik des US-Präsidenten Donald Trump in schlechtem Licht erscheinen. Aufgeflogen war der Reporter, weil er über eine US-Bürgermiliz an der Grenze zu Mexiko berichtet hatte, in seinem Text zitierte Gesprächspartner aber nie getroffen hatte.

Botschafter Grenell schrieb, die anti-amerikanische Berichterstattung des „Spiegels“ habe in den vergangenen Jahren stark zugenommen und „diese Tendenz“ sei „ins Uferlose“ gestiegen, seitdem Donald Trump im Amt sei. Kurbjuweit entgegnete in seinem Antwortbrief: „Wenn wir den amerikanischen Präsidenten kritisieren, ist das nicht Anti-Amerikanismus, sondern Kritik an der Politik des Mannes im Weißen Haus. Anti-Amerikanismus ist mir zutiefst fremd und mir ist absolut bewusst, was Deutschland den USA zu verdanken hat: sehr viel.“