Der Freiburger Mathematikdozent Martin Kramer versucht, den Mathematikunterricht anschaulicher zu gestalten. Doch das reicht ihm nicht. Der Pädagoge will die ganze Schule „neu denken“.

Freiburg - Vor kaum einem Fach graut so vielen Schülern wie vor Mathematik. „Mathematik ist abstrakt, die Frustrationsgrenzen sind niedrig.“ Raphael Plersch studiert Lehramt für Mathematik und Sport in Freiburg und er kann sehr gut nachvollziehen, „wenn Schüler sagen, ich kann mir nichts darunter vorstellen“.

 

Plersch arbeitet mit in der Abteilung Didaktik der Mathematik an der Universität Freiburg. Abteilungsleiter ist der Tübinger Gymnasiallehrer Martin Kramer und der ist ein Exot unter den Mathematikdidaktikern. Sein Ansatz ist radikal. Er will das Abstrakte erfahrbar machen. Er setzt auf Machen: „Was handlungsorientiert ist, bleibt hängen.“

Kramer hält sich nicht lange mit Mäkeleien über Unterrichtsformen oder Debatten über Strukturen auf. „Es braucht keine anderen Rahmenbedingungen. Es braucht neues Denken“, sagt der Oberstudienrat, der für sechs Jahre für die Arbeit am Mathematischen Institut freigestellt ist. Sein Anspruch ist: „Ich will Schule neu denken.“

Ratlose Lehrer

Bisher verzeichnet der Pädagoge, „viel Angstmache in der Mathematik“. Vielleicht auch Ratlosigkeit in der Vermittlung. Wenn alle nach Digitalisierung rufen, setzt er auf Bindfaden und Zollstock. „Der Hype auf interaktive Whiteboards macht‘s noch schlimmer. Man glaubt, damit Probleme lösen zu können. Das kostet ein Heidengeld und ist in fünf Jahren veraltet“, konstatiert Kramer.

Das Grundproblem ist für ihn, „Schule fragt nur die Sachebene ab, was hängen bleibt, ist die Beziehungsebene“. Deshalb sei die „Verschränkung der Sach- und der Beziehungsebene“ so wichtig. Mathematik ist für den Vater eines Sohnes, „die Kunst zu strukturieren“. In der Schule geht es ihm nicht um richtigen, „es geht um stimmigen Unterricht“.

Streben nach dem „stimmigen Unterricht“

Den bringt der Pädagoge, der am Tübinger Uhlandgymnasium und am Mössinger Quenstedt-Gymnasium unterrichtete, seinen Studenten in der Vorlesung nahe. Zum Beispiel in „Geometrie und Stochastik.“ Getreu seinem handlungsorientierten Ansatz schickt Kramer die angehenden Mathematiklehrer los mit Zollstock, Schere und Schur und lässt sie Gegenstände vermessen. Flasche. Handtuchrolle, Abfalleimer, Feuerlöscher, was rumsteht, wird aufgenommen, Hauptsache es ist irgendwie rund. Dann kommt die Rechenaufgabe: Teile den Umfang durch den Durchmesser. Es kommt immer dasselbe raus: 3,14 – Pi. Lernziel erreicht.

Pizzabote für die Nachhaltigkeit

Danach spricht man über die Fläche eines Kreisausschnitts. Plötzlich kommt der Pizzabote in den Seminarraum. Timing ist alles. Jetzt legen die Studenten buchstäblich Hand an den Kreis, schneiden die Pizza in möglichst gleich große Stücke. „Vielleicht bleibt nichts von der Vorlesung, außer dass es Pizza gab“, sagt Kramer.

Doch so wird es wohl nicht sein. Johannes Menzel (8. Semester: Mathematik, Geografie, Chemie), sagt über die Didaktikvorlesung: „Gut, dass wir praktisch alles selbst machen. Dann bleibt mehr hängen.“ Für seinen späteren Alltag als Lehrer nimmt er „gute Anreize“ mit. Allerdings schränkt der Student ein: „Den Ansatz durchgängig im Unterricht umzusetzen, sehe ich als schwierig an.“ Kramer gilt als exotisch. Schüler sind solche Ansätze nicht gewöhnt. Eine frühere Kommilitonin von Johannes Menzel hat Schiffbruch erlitten mit ihrer praktischen Unterrichtsstunde in der Schule nach diesem Konzept.

Vom Abstrakten ins Anschauliche

Doch Kramer „holt die Mathematik aus dem Abstrakten ins Anschauliche“, findet eine Studentin. Und ein weiterer meint: „Es regt einen auf, dass die eigenen Mathelehrer es nicht so gemacht haben.“

Wenn es nach Martin Kramer geht, sollen es die Mathelehrer künftig genau so machen. Sein Motto lautet „Unterricht ist Kommunikation. Der Schüler entscheidet, was gelehrt wurde“. Sein Ansatz, den die Pädagogen den konstruktivistischen nennen, mag aufwendiger sein. Aber der Lernertrag kann umso größer werden.

Neue Ausbildung zum glücklichen Referendar

Entscheiden, was gelehrt wird, sollen auch die künftigen Lehrer für ihre eigene Ausbildung. Martin Kramer schwebt eine völlig neue praktische Phase der Lehrerausbildung vor. „Wir wollen Referendare radikal anders auf den Unterricht vorbereiten“, sagt er. „Proferendariat“ heißt sein Programm von einem „glücklichen Referendariat“, das er im Jahr 2018 an 40 Schulen im Land starten will. Es ist ein gewagtes Vorhaben. Die künftigen Lehrer sollen sich ihre eigene Ausbildung zusammenstellen und aus 40 angebotenen Modulen 20 auswählen.

Noch ist das Programm im Aufbau. Gesucht werden noch einige Dozenten, Schulen und interessierte Referendare, das Stichwort der Internetseite lautet http://lernzukunft.de. Die Sache dauert zwei Jahre, wie das klassische Referendariat. Allerdings qualifiziert sie nicht für den staatlichen Schuldienst. Privatschulen kämen jedoch als Arbeitsplätze in Frage, meint Kramer. Er selbst will für das Angebot zwei Sabbatjahre investieren.

Schräge Idee, vielleicht mit Zukunft?

Kramer wendet sich gar nicht gegen die staatliche Ausbildung. „Ich stelle was daneben, nicht etwas dagegen.“ Ihm schwebt die Zusammenarbeit mit einem Partnerbauernhof vor, er spricht vom „pflügenden Klassenzimmer“. Er kann sich serviceorientiertes Lernen vorstellen, warum sollte man nicht in einem Workshop einen Spielplatz bauen. Das ganze klingt ziemlich schräg, das weiß Kramer selbst. Aber für eine pfiffige Sache hält er es doch. Und er glaubt: „Die Zeit ist reif“. Wohin das Vorhaben führen kann? Der Oberstudienrat ist zuversichtlich: „Früher oder später übernimmt der Staat die guten Ideen.“