Seit Mittwoch bietet Locomore der Deutschen Bahn auf der Strecke von Stuttgart nach Berlin mit einem neuen Angebot die Stirn. Ein Vergleich.

Stuttgart - Um 6.14 Uhr ist immer noch kein Zug in Sicht. Dabei war doch alles für den großen Bahnhof am Stuttgarter Hauptbahnhof angerichtet. Der private Bahnanbieter Locomore geht mit der Strecke Stuttgart – Berlin an den Start. 70 Medienvertreter haben sich angemeldet, um der Jungfernfahrt an diesem Mittwoch beizuwohnen.

 

Leider hat der Zug bei seiner Premiere schon jetzt Verspätung, lockere 20 Minuten. Locomore kommuniziert das aber branchenspezifisch eher defensiv auf den Tafeln am Gleis: „Loc 1818 nach Berlin ++ Verspätung ca. 5 Minuten“. Erste Mutmaßung: die Bahn blockiert die Gleise, um den Konkurrenten auszubremsen. Die Wahrheit ist noch skurriler. Locomore arbeitet mit der schwedischen Firma Hector Rail zusammen, die sich um die Loks kümmert. Irgendwie scheinen die Kollegen in Schweden verpennt zu haben, dass es schon längst hätte losgehen sollen. Schöne Vorstellung: schwedische Lässigkeit in der Konzernzentrale in Stockholm. „Wieso rufen diese orangenen Deutschen denn die ganze Zeit an?“ Nach einer halben Stunde geht man dann doch ans Telefon. Die Locomore-Jungfernfahrt, die uns an diesem Tag 65 Euro kostet, beginnt mit sportlichen 39 Minuten Verspätung um Punkt 7 Uhr.

Die Deutsche Bahn gibt Fahrgastzahlen nicht preis

Zu diesem Zeitpunkt ist der morgendliche ICE der DB (2.-Klasse-Ticket für 140,65 Euro) schon zu seiner Fahrt nach Berlin aufgebrochen. Die Strecke ist so stark nachgefragt, dass der Branchenriese sein rot-weißes Zugpferd täglich sieben Mal vom Neckar an die Spree pendeln lässt. Fast 10 000 Sitzplätze biete man hier täglich an, rechnet ein Bahnsprecher in Stuttgart vor. Wie stark die ausgelastet sind, mag er nicht sagen. „Zu diesen wettbewerbsrelevanten Daten äußern wir uns nicht.“

Auf Locomore angesprochen übt man sich in Fairplay: „Die DB begrüßt generell Wettbewerb im Schienensektor.“ Diesen Wettbewerb spürt der Schienenkonzern auch auf der Straße, wo ihm Fernbusse zu schaffen machen. Bei Flixbus gibt’s unter Hinweis auf Wettbewerbsgründe auch keine Angaben zu Fahrgastzahlen zwischen Stuttgart und Berlin. Der Manfred-Rommel-Flughafen lässt sich eher in die Karten schauen. „Wir haben auf der Berlin-Strecke im Jahr etwa eine Million Passagiere“, sagt Flughafensprecher Johannes Schumm.

Locomores Anfangsverspätung ist rasch aufgeholt

Passagierzahlen, die für Locomore-Geschäftsführer Derek Ladewig, früher unter anderem als Bahnreferent für die Grünen im Bundestag tätig, noch außerhalb jeder Reichweite liegen. Im Moment hat der aber andere Sorgen. Die Anlaufschwierigkeiten in Stuttgart findet er nur mäßig witzig. Dank 20 Minuten Puffer im Fahrplan liegt die Verspätung jedoch schon bei Darmstadt mit acht Minuten in einem Bereich, über den man bei der Deutschen Bahn gar nicht mehr sprechen würde.

Ladewig entspannt sich. Wer die DB herausfordert, braucht gute Nerven. Vor vier Jahren hatte der Gründer, Gesellschafter und Geschäftsführer von Locomore die Idee, mit einer Bahn-Alternative ins Rennen zu gehen. Als Initiator des Hamburg-Köln-Express (HKX) hatte er in der Rolle des David im Kampf gegen den Schienengoliath erste Erfahrungen gesammelt – mit mäßigem Erfolg. Inzwischen hat Ladewig dem Projekt den Rücken gekehrt. HKX fährt nur noch gebremst. Die vorübergehende Ausweitung des Streckennetzes bis Frankfurt am Main ist wieder kassiert. Anders als im hochsubventionierten Regionalverkehr sind private Anbieter auf der Fernstrecke die absolute Ausnahme. Dass sich die Landespolitik mehr Wettbewerb wünscht, lässt sich daran ablesen, dass Gerd Hickmann, für den Schienenverkehr zuständiger Abteilungsleiter im grün geführten Verkehrsministerium, bei der Premierenfahrt von Locomore an Bord ist. Der Bahnbetrieb ist ein Millionengeschäft. Dank eines Investors konnte Locomore Wagen kaufen, die die Niederländische Staatsbahn vor 15 Jahren von der DB erworben hatte. Locomores Hausfarbe ist aber nicht Orange aus Dankbarkeit für den Oranje-Express. „Wir sind Orange, weil wir auffallen wollen. Der Fernverkehr ist bisher zu einfarbig“, so Ladewig.

Der Neuling sammelt Geld im Internet ein

Einen Bekanntheitsschub für Locomore brachte eine Crowdfunding-Aktion im vergangenen Jahr. 1300 Teilnehmer spendeten mehr als 600 000 Euro. „Das war nicht nur aus finanziellen Gründen wichtig, sondern auch, um gemeinsam mit unserer Crowd unser Produkt schärfen zu können“, sagt Derek Ladewig. Die Nachfrage nach seinen Tickets sei bisher gut, der Zug am 23. Dezember dank Weihnachtsreisewelle am besten gebucht. Sollte die Nachfrage auch im neuen Jahr gut sein, will Locomore weitere Züge und Strecken in Betrieb nehmen, oder, um es in der Sprache der Bahner zu sagen, „weitere Züge aufgleisen“.

Bei der Jungfernfahrt ist das Verhältnis normale Gäste zu Pressevertreter und Ehrengäste ungefähr ein Drittel zu zwei Drittel. Kollegen witzeln bereits, dass man sich dann eben gegenseitig interviewen müsse. So weit kommt es nicht, denn in Fulda, wo die Verspätung längst wettgemacht ist, steigt Klaus Anhalt, 45, mit seinem dreijährigen Sohn Peter ein. Die beiden machen es sich in Wagen 4, Abteil 1, Thema „Weihnachtsbasteln“ bequem. Locomore arbeitet mit sogenanntem „Social Seating“, also Themenabteils, um Menschen mit denselben Hobbys zusammenzuführen. Es gibt ein Abteil Stricken und Häkeln, ein Abteil Kartenspiele, in dem ein einsames Skat-Blatt auf Mitspieler wartet, und den Gemeinschaftsbereich Fußball.

Familie Anhalt hat immerhin einen Hertha-Schal dabei. Vater und Sohn waren auf Familienbesuch in Fulda. „Ich habe vorgestern zufällig von Locomore erfahren und direkt gebucht. Für mich war entscheidend, dass der Zug auch am Bahnhof Zoo hält. Von dort aus bin ich später schneller in meinem Büro in Potsdam“, sagt der Physiker. Was ihm auffällt: Auf der Strecke zwischen Fulda und Kassel gibt es viele Tunnel. Den Druckausgleich spürt man bei Locomore stärker als in den moderneren ICEs mit ihren besser isolierten Fenstern. Die Ohren gehen immer wieder zu. Was ihm positiv auffällt: Klaus Anhalt freut sich über die alten Wagen, über die Sitze, die mitfedern, und über das schnelle Internet, von dem vor allem sein Sohn Peter profitiert: Er darf die Sendung mit der Maus auf dem Handy des Vaters schauen.

Das schnelle Internet überzeugt

Das schnelle WLAN gleicht tatsächlich einem technischen Weltwunder. Locomore setzt aber nicht auf geheime Nasa-Technik, sondern auf Antennen auf jedem Wagendach und auf den Mix aus allen verfügbaren Anbietern. Etwas vereinfacht ausgedrückt, kann so Vodafone einspringen, wenn das Telekom-Netz mal schwächelt.

Mark Smith, mit bis zu einer Million Besuchern pro Monat auf seiner Website www.seat61.com einer der erfolgreichsten Zugblogger Europas, spielt eine Runde Zug um Zug mit einem Mitreisenden im Abteil Gesellschaftsspiele. Smith ist Zugnerd. Früher hat er in verschiedenen Funktionen für British Rail, der britischen Bahn gearbeitet. 2007 kündigte er seinen Job, längst kann er von seiner Arbeit als Zug-Blogger leben. Locomore sieht er vor allem als Konkurrenz zu Firmen wie Flixbus. „In Italien ging kürzlich auch eine Alternative zum Monopolisten an den Start. Das hat den dazu gezwungen, seine Standards zu verbessern“, sagt Smith, und konzentriert sich wieder aufs Spiel – er ist am Zug.

Kurz vor Kassel begrüßt Locomore den ersten Schwarzfahrer in seiner noch jungen Geschichte. Der Geschäftsmann, der seinen Namen nicht nennen möchte, hatte in Fulda seinen Anschlusszug verpasst. Die Mitarbeiter der Bahn hatten ihm dort angeblich Locomore als Alternative empfohlen mit dem Zusatz, das sei eine Privatbahn, die DB-Karte würde aber trotzdem gelten. Das führt bei Locomore zu Heiterkeit. Der Reisende darf seinen Trip fortsetzen, ohne ein weiteres Ticket lösen zu müssen.

Braunhirse-Sandwich als größte Herausforderung

Im Gegensatz zur Bahn hält Locomore in Wolfsburg. Zeit, Julian Draxler aus den Fängen des VfL zu retten? Nein, selbst Schuld. Stattdessen tasten wir uns kulinarisch an Locomore heran. Alle Speisen auf der Karte sind Bio, der Kaffee ist Fair Trade. Die größte Herausforderung: ein Braunhirse-Sandwich mit Tomaten, Pesto und Olivenöl. Schmeckt, nun ja, interessant.

Alles eine Frage des Geschmacks. Unumstritten ist die Erkenntnis, die sich aus dem Blick in den Fahrplan ergibt. Der pünktlich in Stuttgart auf die Reise gegangene ICE kommt mit zwölf Minuten Verspätung in Berlin an, Locomore fünf Minuten früher als vorgesehen. Statt 71 Minuten hat der Hochgeschwindigkeitszug dem Neuling „nur“ 54 Minuten abgenommen – die verspätete Abfahrt in Stuttgart nicht eingerechnet. Wem das zu viele Zahlen waren, dem sei ein Blick ins Kleingedruckte von Locomore empfohlen. Unter Paragraf 12 heißt es dort zur Mitnahme von Tieren, dass die „unentgeltliche Beförderung von Einhörnern (...) in Mehrzweckabteilen zulässig“ ist. Wer es mit der Bahn aufnimmt, braucht eben viel Fantasie.