Der neue Comic "Kupferherz" spielt in dem Genre des Steampunks. Der verbindet Futurismus von gestern mit dem Unbehagen von heute.
Stuttgart - Der Comic "Steam Noir - Das Kupferherz" spielt in der Zeit "nach den blinden Tagen", die Panels der ersten Seite zoomen sich von "Landsberg 5 NBT" an die fliegende Scholle des Königreichs Januskoogen heran und schwenken hinab in die Stadt Schierling - und nach dem Umblättern breitet sich doppelseitig ein nächtliches Panorama um das "Dach von Heinrich Lerchenwalds Haus" herum aus. Architektur wie aus der Gründerzeit, versetzt mit Glas- und Eisenkonstruktionen, schlotende Fabrikkamine, Zeppeline. Und mittendrin der bärtige Held mit Weste und Fliege, der von einer Rampe aus eine illuminierte Metallkonstruktion begutachtet. Willkommen im Reich des Steampunk!
Die beiden großen Vorläufer, die dieses Reich Ende des 19. Jahrhunderts unter Dampf setzten, heißen H.G. Wells und Jules Verne. Deren literarische Entwürfe von Robotern, Zeitmaschinen, Unterseebooten oder Mondraketen waren zu ihrer Zeit allerdings Blicke in die Zukunft, die heutigen Nachfolger dagegen werfen ihre Blicke quasi zurück in die Vergangenheit der Zukunft. Die elektronische Moderne, die schon jetzt die Gegenwart beherrscht, ist dem Steampunk viel zu glatt, zu anonym, zu wenig haptisch. Das Genre propagiert trotzig die anachronistische Gegenbewegung - deshalb der Punk im Namen - und will buchstäblich das Rad zurückdrehen zum Sichtbaren, Mechanischen und Heroischen, will niet- und nagelfeste Visionen, die auch optisch etwas hermachen.
Die von S. J. Chambers und Jeff Vandermeer herausgegebene "Steampunk Bible" fasst im Untertitel einige stilprägende Merkmale zusammen: "Ein illustrierter Führer durch die Welt der Fantasie-Luftschiffe, Korsette, Schutzbrillen, verrückten Wissenschaftler und seltsamen Literatur." Dieses Phänomen des Retro-Futurismus, in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erstmals auf den Steampunk-Begriff gebracht, tritt vor allem in viktorianischem Gewand auf und ist für die Fans auch modisch vorbildhaft. In Philip Pullmans "Sally Lockhart Mysteries" etwa kommt eine junge Frau im langen Kleid im nebligen Backstein-London einer Verschwörung um Massenvernichtungswaffen auf die Spur. Und in seinem Comic "Die Liga der außergewöhnlichen Gentlemen" reaktiviert Alan Moore die alten Helden Captain Nemo, Allan Quatermain, Mina Harker, Dr. Jekyll (und Hyde) - samt Lederkappen, Anzügen und Pelzstolen.
Sehnsucht nach Abenteuer und Geheimnis
Ausgerechnet ein Japaner, nämlich der Anime-Regisseur Hayao Miyazaki, hat dem Steampunk dann auch einen deutschen Look eingeschrieben, seine in jedem Sinn fantastischen Filme "Das Schloss im Himmel" (1986) und "Das wandelnde Schloss" (2004) kombinieren ihre Dampf- und Zauberwelten mit Fachwerk, Kopfsteinpflaster und Butzenscheiben. Und eine genuin deutsche Note fügt nun auch die auf vier Bände angelegte Geschichte "Steam Noir - Das Kupferherz" von Felix Mertikat und Benjamin Schreuder dem Genre hinzu. Er habe sich im Studium gern mit der Romantik beschäftigt, etwa mit den "fiebrigen" Erzählungen eines E.T.A. Hoffmann, sagt der Szenarist Benjamin Schreuder. Der Ko-Autor und Zeichner Felix Mertikat, mit dem er schon den vielbeachteten Märchen-Comic "Jakob" schuf, stammt aus Esslingen, die Atmosphäre dieser Stadt, so Schreuder, habe sich wohl "organisch eingefügt" in das neue Werk, in ersten Entwürfen sei auch noch ganz konkret das Rathaus von Tübingen dabei gewesen.
"Gute Reise!" wünschen Mertikat und Schreuder dem Leser, den sie schon im ersten Band ihres auf dem Rollenspiel "Opus Anime" basierenden Comics in eine Geschichte werfen, die unter anderem von einem eingemauerten Mädchen, einem Metallprothesen anlegenden Doktor, einer maskierten Schutztruppe und dem schon erwähnten Heinrich Lerchenfeld erzählt. Letzterer ist ein Bizarromant genannter Geisterjäger, er will zusammen mit der attraktiven Frau D. und Herrn Hirschmann, einem dampfbetriebenen Roboter mit kleinem Halbkugelkopf, ein Verbrechen aufklären. Wobei die in Sepia-Tönen gehaltenen und oft ineinandergeschobenen Panel zunächst immer tiefer hineinführen in finstere Komplotte, Intrigen und Magie.
Im Steampunk-Genre drückt sich eine große Sehnsucht nach Abenteuer und Geheimnis aus - und ein ebenso großes Unbehagen am profanen Stand der Dinge, an der allumfassenden Entzauberung der Welt. Wie manche E.T.A.-Hoffmann-Erzählung, etwa "Der Sandmann" mit der kalten Automatenfrau Olimpia, zwingt auch die Geschichte vom Kupferherz jetzt Technik und Magie zusammen. "Es ist zu befürchten, dass mit jeder vernichteten Seele das empfindliche Gefüge zwischen unserer Scholle und der Totenscholle Vineta beschädigt wird", sagt Heinrich, der "Eindämmungsexperte für Übernatürliches", als schwerbewaffnete Söldner die Wesen aus der "anderen" Welt kaputtschießen wollen.
Aber so dunkel es hier auch zugehen kann: "Steam Noir" schützt sich vor dem Absturz ins verzweifelt Dystopische durch Romantik, Nostalgie und Ironie. Das Unheimliche, so darf man sagen, wird einem ganz heimelig. Benjamin Schreuder, der sich offen zum Eskapismus bekennt, bezeichnet seine mit Zahnrädern, Kolben, Nieten, Zylindern, Backenbärten und Spitzendeckchen ausstaffierte Alternativwelt sogar als "gemütlich". Und so könnte man bei der Lektüre seines Comics dann auch das tun, was uns der Held Heinrich Lerchenfeld in seinen Ruhephasen vormacht: Sich einen Hausmantel anziehen, die Beine übereinander legen und Tee trinken.
Felix Mertikat, Benjamin Schreuder: Steam Noir - Das Kupferherz. Band 1. Verlag Cross Cult, Ludwigsburg. 64 Seiten, 16,80 Euro.
Vorläufer und Ausläufer des Steampunk
Film In den sechziger Jahren hat der Tscheche Karel Zeman utopische Romane wie Jules Vernes „Erfindung des Verderbens“ auf nostalgische Weise verfilmt: er kopierte reale Schauspieler in historisierende Kulissen hinein.
Roman Ebenfalls in den Sechzigern schrieb Keith Roberts den faszinierenden Alternative-History-Roman „Pavane“, in dem Königin Elisabeth I. ermordet wird, England in einen inquisitorischen Katholizismus zurückfällt und der Fortschritt nur auf Dampf, nicht aber auf Elektrizität zurückgreifen kann.
Comic Das belgische Duo François Schuiten und Benoit Peeters hat in den Achtzigern seinen Zyklus „Die geheimnisvollen Städte“ begonnen, in dem futuristische Parallelwelten vorgestellt werden. Die Architekturfantasien zu Klassizismus oder Jugendstil werden im Zusammenhang mit Steampunk zwar nur selten erwähnt, haben dessen Retro-Look aber wohl mitgeprägt.