Schon Kinder und Jugendliche in Baden-Württemberg leiden häufig an Übergewicht oder Rückenschmerzen, zeigt eine Auswertung der Krankenkasse DAK. Woran liegt das? Und wie fit sind Jungen und Mädchen körperlich?
Stuttgart - Immerhin: Im Vergleich sind junge Menschen im Südwesten etwas gesünder als Gleichaltrige anderswo in Deutschland. Doch Experten sehen auch hierzulande durchaus Grund zur Sorge: Jedes vierte Kind in Baden-Württemberg leidet an einer chronischen Erkrankung, zeigt der neu erschienene Kinder- und Jugendreport der Krankenkasse DAK. Am stärksten verbreitet sind dabei Neurodermitis, Asthma, Heuschnupfen und entzündliche Darmerkrankungen.
Worunter leiden Mädchen und Jungen noch?
Auffällig ist auch, dass bereits jedes zehnte Kind eine psychische Erkrankung diagnostiziert bekommt – mit potenziell chronischem Verlauf. Auch Muskel-Skelett-Erkrankungen wie Rückenschmerzen sind verbreitet: Fast jedes sechste Kind hat mindestens einmal im Jahr eine entsprechende Diagnose, ab dem zwölften Lebensjahr ist es sogar ein Viertel aller Jungen und Mädchen. „Das ist alarmierend”, sagt Siegfried Euerle, Leiter der DAK-Landesvertretung Baden-Württemberg. „Frühe Muskel-Skelett-Probleme können im Erwachsenenalter schwere Rückenleiden nach sich ziehen.” Auch an krankhaftem Übergewicht leiden schon Schulkinder vermehrt. Knapp drei Prozent der Kinder und Jugendlichen sind davon betroffen, bei den Neun- bis Dreizehnjährigen sind es sogar fünf Prozent.
Welche Daten flossen in die Auswertung ein?
Rund 1,9 Millionen Kinder und Jugendliche leben in Baden-Württemberg. Gesundheitsökonomen um Julian Witte von der Universität Bielefeld haben nun – im Auftrag der Krankenkasse – die Abrechnungsdaten von DAK-Versicherten aus dem Jahr 2016 ausgewertet. Die repräsentative Studie soll die gesundheitliche Situation von Kindern und Jugendlichen erstmals systematisch beleuchten. Auch Daten aus anderen Bundesländern und regionale Unterschiede haben die Wissenschaftler zusammengetragen. In die Auswertung flossen dabei nur jene Erkrankungen und Leiden ein, die auch von Ärzten diagnostiziert wurden. Fast 90 Prozent aller über die DAK versicherten Kinder- und Jugendlichen im Südwesten sind mindestens einmal jährlich beim Arzt oder im Krankenhaus.
Welche Unterschiede gibt es zwischen Stadt und Land?
„Der Unterschied zwischen Stadt- und Landkindern ist in Sachen Gesundheit größer als gedacht”, sagt Siegfried Euerle - das belege der Report deutlich. Etwa 53 Prozent der DAK-versicherten Kinder in Baden-Württemberg leben in einer städtischen Gemeinde. Sie leiden deutlich öfter an Viruserkrankungen, Übergewicht und Zahnkaries, belegt die Auswertung. Gleichaltrige, die auf dem Land leben, haben häufiger eine akute Bronchitis, Sprachstörungen oder Heuschnupfen. Die Gründe für diese Unterschiede könne man allerdings nur vermuten, so Euerle. Es könne an einer unterschiedlichen Versorgung liegen, an der Umwelt oder am Verhalten der Eltern. So zeigt sich etwa, dass Kinder von Eltern ohne Bildungsabschluss bis zu 2,8 mal häufiger Probleme mit Karies haben und zweieinhalbmal öfter unter Adipositas leiden als Akademikerkinder.
Welche Gründe für die gesundheitlichen Probleme gibt es?
Mediziner vom Klinikum Stuttgart beobachten in den vergangenen Jahren durchaus Tendenzen zur Zunahme einiger Erkrankungen – etwa von Rückenschmerzen und Kopfschmerzen, aber auch psychischen Problemen oder Übergewicht. Zum einen liege das daran, dass beispielsweise psychische Probleme wie Aufmerksamkeitsdefizite heute besser erfasst würden, sagt Markus Rose, Facharzt am Olgahospital. Zum anderen aber gäbe es durchaus gesellschaftliche Veränderungen, die zu den Problemen führten: „Ursache für mehr Kopfschmerzen oder Verspannungen ist ganz klar Zeit vor Bildschirmgeräten wie Tablets oder Smartphones“, sagt Rose. Insgesamt erachten die Experten einen Mangel an Bewegung und gesunder Ernährung vor allem bei Kindern aus sozial schwächeren Familien als großes Problem an. Wer etwa übergewichtig sei, habe häufiger Rückenschmerzen und ein höheres Risiko, an Depressionen zu erkranken. „Dabei könnten diese Probleme durch präventives Verhalten vermeidbar sein.“
Wie fit sind Kinder hierzulande körperlich?
„Die heutige Kindergeneration ist um zehn Prozent weniger fit als ihre Elterngeneration”, sagt Klaus Bös, Professor für Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT). Bös hat gemeinsam mit der Kinderturnstiftung Baden-Württemberg nun einen Motorik-Test entwickelt, mit dessen Hilfe die Ausdauer, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Koordination von Kindern zwischen drei und zehn Jahren festgestellt werden kann. Die Stiftung hat jetzt erstmals die Daten von mehr als 19 000 Kindern im Land ausgewertet und im sogenannten Fitnessbarometer veröffentlicht. Demnach erreichen die Kinder hierzulande im Schnitt einen Fitness-Wert von 56,5 Prozent – und damit immerhin 6,5 Prozentpunkte mehr als gleichaltrige Kinder im bundesweiten Durchschnitt.
Woran liegt es, dass Kinder motorisch nicht mehr so leistungsfähig sind?
Für Klaus Bös ist der Grund eindeutig: „Kinder bewegen sich viel zu wenig, weil Bewegung heute einfach nicht mehr so einen hohen Stellenwert hat”, sagt der Sportwissenschaftler. Nur etwa 22 Prozent der Jungen und 12 Prozent der Mädchen in Deutschland sind eine Stunde am Tag körperlich aktiv – dabei wäre das die von der Weltgesundheitsorganisation empfohlene Zeit. Besonders fehle es außerhalb von Bildungseinrichtungen und Vereinsaktivitäten an Bewegung.
Was lässt sich tun, damit Kinder fitter werden?
Vor allem die Rolle der Eltern als Vorbilder sei entscheidend, sagt Susanne Weimann, Geschäftsführender Vorstand der Kinderturnstiftung Baden-Württemberg. „Auch bei vielen Erwachsenen sind Bewegungsmangel und Übergewicht hierzulande ein Problem.” Wichtig sei es etwa, im Alltag mehr Wege zu Fuß, mit Rad oder Tretroller zurückzulegen und Kindern auch mal etwas zuzutrauen. „Kinder haben einen natürlichen Bewegungsdrang. Man erhält aber den Eindruck, dass dieser häufig eher aberzogen wird.” Vor allem in Städten spiele auch eine Rolle, dass es weniger Flächen für freie Bewegung gebe. Handlungsbedarf sieht sie aber auch bei Bildungseinrichtungen: Hier gebe es etwa bei Platz oder Materialien für Bewegung und bei der Ausbildung des fachlichen Personals große Unterschiede. Die Kinderturnstiftung Baden-Württemberg fördert deshalb etwa die Zusammenarbeit zwischen Kindertagesstätten und Turn- und Sportvereinen. „Regelmäßige Bewegung kann psychischen Druck abbauen, ablenken, Rückenschmerzen entgegenwirken und fördert Lernprozesse und soziale Fähigkeiten”, sagt Weimann. „Die Grundlagen dafür, ob jemand sich auch im Verlauf seines Lebens gerne und regelmäßig bewegt, werden schon früh gelegt.“