Die britische Labour Party führt nun einer an, an den sich Parteifürsten und Funktionäre erst gewöhnen müssen. Der 66-jährige Jeremy Bernard Corbyn gilt als Rebell und Linker. Das Porträt eines Hoffnungsträgers.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Von jetzt an führt die britische Labour Party einer, an den sich Labours Fürsten und Funktionäre erst gewöhnen müssen. Der 66-jährige Jeremy Bernard Corbyn, der am Samstag in einer Urwahl zum neuen Parteichef gewählt wurde, findet sich im Pulk der großen Parteinamen nicht.

 

Sein halbes Leben lang verbrachte Corbyn in Westminster am Rande des politischen Spektrums. Jahrzehntelang wurde er vom eigenen Establisment als linker Querkopf, als bärtige Kuriosität, als ewiger Rebell betrachtet. Dieser eigensinnige Politiker stand immer draußen vor der Tür aller Machtzentralen - inmitten von Demonstranten, mit irgend einem Protestschild in der Hand.

Schon als Schüler gehörte der Sohn eines Elektrikers und einer Mathematik-Lehrerin im englischen Shropshire den örtlichen Jungsozialisten und dem Tierschutz-Verband an (aus Mitleid mit Hasen und Füchsen). Die Eltern, beide leidenschaftliche Friedens-Aktivisten, hatten sich im Spanischen Bürgerkrieg kennengelernt. Jeremy verbrachte nach Schulabschluss zwei Jahre in Jamaika, um freiwilligen Sozialdienst zu leisten. Danach fand er daheim einen Job als Gewerkschafts-Organisator. Er wurde Stadtrat in Nord-London und 1983 Abgeordneter für Nord-Islington.

Aufmüpfiger Ernst als Markenzeichen

Als Parlamentarier war Corbyn bekannt für seinen aufmüpfigen Ernst, seine Unerschrockenheit in allen Dingen. Er plädierte früh für die Abschaffung der britischen Atomwaffen, ließ sich vorm Südafrika-Haus am Trafalgar Square als Apartheid-Gegner verhaften, zog für Amnesty International zu Felde und setzte sich für homosexuelle Gleichberechtigung ein. Nie drängte er sich sonderlich ins Rampenlicht. Das überließ er Leuten wie Tony Benn, den „großen Tieren“ der Linken. Seine Landsleute kannten ihn als den Mann, der im Schatten der prominenten Köpfe stand.

Wo er sich jedoch gebraucht fühlte, wie beim Widerstand gegen Londons Nahostkriege, mischte er sich ein und übernahm zentrale Positionen. Seit 2001 ist er Vorsitzender der Stop-The-War-Coalition Grossbritanniens gewesen. Im politischen Bereich brachte er Parteiführung und Presse gegen sich auf durch frühe Kontakte zu Gerry Adams und Irlands Republikanern. Wirklich bekannt wurde er, als er sich in der anti-irischen Hysterie der achtziger Jahre in England der zu Unrecht verurteilten „Birmingham Six“ annahm.

Auch sein langjähriges Engagement für die Rechte der Palästinenser brachte ihm Probleme. Dass er bei einer Veranstaltung einmal Hamaz- und Hezbollah-Repräsentanten als „Freunde“ titulierte, geht ihm bis heute nach. Er selbst beteuert, dass dies kein Urteil über die betreffenden Organisationen, sondern nur eine Ermunterung zu Verhandlungen habe sein sollen. Auch dass er den Buckingham-Palast einmal für Londons Obdachlose öffnen wollte, will er nicht rabiat, sondern eher symbolisch gemeint haben. Republikaner ist er auf jeden Fall. Am Königtum liegt ihm wenig. Aber das, sagt er, sei eine Kampagne, die „jetzt keinen Vorrang“ habe.

Vegetarier und Anti-Alkoholiker

An seiner Person, an seinem Image eines unaggressiven, aber hartnäckigen Sportlehrers, ergötzt sich die Nation, seit sie mehr über ihn erfahren hat. Corbyn trinkt nicht. Er ist Vegetarier, seit er als junger Mann auf einer Schweinefarm gearbeitet hat. Seine Bohnen und Kartoffeln baut er selbst an. Ein Auto besitzt er keins, dafür aber ein Fahrrad. Auf dem saust er, im ewig verknitterten beigen Jackett oder im Pulli, durch die Straßen Londons. Leicht wird es ihm nicht fallen, zu feineren Klamotten zu wechseln und in eine Dienstlimousine zu steigen.

Verheiratet ist Corbyn zum dritten Mal, dieser Tage. Aber auch seine Ex-Gattinnen wissen nur Freundliches über ihn zu sagen. Mit seiner zweiten Frau, einer Chilenin, hat er drei Söhne. Wie es heisst, soll die Ehe auseinander gegangen sein, weil er sich aus Prinzip weigerte, die Kinder in Privatschulen zu schicken. Seine derzeitige Frau und Lebensgefährtin Laura Alvarez stammt aus Mexiko. Sie betreibt einen kleinen Kaffee-Import, als Fair-Trade-Promoterin.

Viel Geld gibt er nicht aus. Im Parlament ist er als der Abgeordnete mit den geringsten Spesen und den häufigsten Nein-Voten gegen die eigene Parteilinie bekannt. Gegen jede vierte Vorlage der Labour-Administrationen Tony Blairs und Gordon Browns hat er gestimmt, zwischen 1997 und 2010. Seine Unbestechlichkeit hat ihn auch Wählern näher gebracht, die der Politiker-Allüren müde sind. Manche seiner Forderungen, wie die Wiederverstaatlichung des Eisenbahnwesens und der Energie-Konzerne, sind beliebt bei einfachen Bürgern auf der Rechten wie auf der Linken im Land.

Radikalen Wechsel in der Wirtschaftspolitik gefordert

Seine wirtschaftspolitischen Pläne sind ebenfalls scharf gegen den konventionellen Strich gebürstet. David Camerons Austeritätskurs will er durch öffentliche Investitionen und eine staatseigene „Nationale Investment-Bank“ korrigieren. Experten und Wirtschaftsbosse haben ihm vorgerechnet, dass das nicht gut gehen würde. Aber eine Anzahl prominenter Ökonomen, darunter Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, hat sich hinter ihn gestellt.

In allen Bereichen will Corbyn Gemeinschaftsgeist stärken, den Schwachen auf die Beine helfen, die Reichen besteuern, Privatisierung eingrenzen. Ob er seine Landsleute damit überzeugt, ist eher ungewiss. Nicht ganz sicher sind viele auch, was seine Haltung zur EU angeht. Instinktiv ein Euroskeptiker, hat es ihn Überwindung gekostet, jetzt doch ein Ja zur EU abzugeben - solange sich die EU nur reformiert, und sozialen Fortschritt auf der Insel nicht behindern will.