Am Sonntag startet auf Pro Sieben Stefan Raabs Polittalk „Absolute Mehrheit“. Wird der Entertainer die viel kritisierten ARD-Talkshows unter Druck setzen?

Stuttgart – „Meinung muss sich wieder lohnen“: Das könnte der Titel einer Ausgabe von „Hart aber fair“ sein. Doch es ist ausgerechnet der Unterhaltungsspezialist Stefan Raab, der diese Maxime zum Motto einer neuen Talkshow macht. Sie heißt „Absolute Mehrheit“ – auch das ist Programm: Frei nach dem Wahlspruch des „TV total“-Quiz’ „Blamieren oder kassieren“ wird mit 100.000 Euro belohnt, wer seine Position aus Sicht der Zuschauer am überzeugendsten vertreten kann. Während die ARD darüber nachdenkt, die Anzahl ihrer Plauderrunden zu reduzieren, sorgt Pro Sieben von Sonntag an dafür, dass im Fernsehen noch mehr geredet wird: Alle vier Wochen kann man sonntags um 22.45 Uhr nach dem Ende von „Günther Jauch“ umschalten und sich davon überzeugen, ob es der Privatsender besser macht. Stefan Raab will sich auf eine Rolle als Gastgeber beschränken und in die Gespräche seiner Gäste – Politiker, Prominente und Normalverbraucher – nicht eingreifen. Am Ende der neunzig Minuten langen Sendung soll der Sat-1-Nach- richtenchef Peter Limbourg ein Fazit ziehen.

 

Vermutlich werden sich die Entscheidungsträger der ARD Raabs Sendung sehr genau anschauen, denn es könnte sein, dass „Absolute Mehrheit“ ein Merkmal zu bieten hat, das den Darbietungen von Jauch, Plasberg, Will und ihren Kollegen abgeht: Unverwechselbarkeit. Der ARD-Chefredakteur Thomas Baumann hat Raabs Konzept zwar schon als „abwegig“ abgekanzelt, aber auch er kann nicht bestreiten, dass die Talkshows der ARD ins Gerede gekommen sind: bei den Zuschauern, die nicht mehr so zahlreich einschalten wie noch vor einigen Jahren, aber vor allem beim Programmbeirat. Das Gremium ist in einem internen Papier in ungewohnter Schärfe mit den Auftritten der ARD-Angestellten ins Gericht gegangen.

Gerade Jauch, vor zwei Jahren noch als Heilsbringer gefeiert, wird vehement kritisiert. Natürlich hat die harsche Beurteilung zu viel Gesprächsstoff innerhalb der ARD geführt. Letztlich geht es in gewissem Sinn auch dabei um „Blamieren oder kassieren“: Man denkt darüber nach, ob das Erste nicht auf eine der fünf Sendungen verzichten könne. Ein Strategiepapier des Programmdirektors geht sogar noch weiter: Darin ist von „höchstens vier“ Sendungen die Rede. Volker Herres’ Hauptargument für eine Reduzierung ist die mangelnde programmplanerische Flexibilität, schließlich muss sonntags bis donnerstags auf die fest terminierten Talkshows Rücksicht genommen werden.

Die ARD-Talkshows sind „weder Fisch noch Fleisch“

Nach Ansicht des Marburger Medienwissenschaftlers Gerd Hallenberger zielt diese Überlegung jedoch am eigentlichen Problem vorbei, schließlich gebe es im Mutterland des zeitgenössischen Fernsehens, in den USA, ebenfalls allabendlich politische Talkshows, und dies zudem mit den immer gleichen Moderatoren. In den USA haben solche Sendungen in ihren unterschiedlichsten Ausprägungen eine fast sechzig Jahre alte Tradition. Hallenberger sieht ein ganz anderes Manko. Er spricht von „Vorspiegelung falscher Tatsachen“: Im Grunde seien die ARD-Talkshows und ihre Moderatoren ebenso austauschbar wie die Gäste; sogar die Themen seien sich sehr ähnlich. Die ARD tue aber so, als handele es sich um völlig verschiedene Entwürfe, die jedoch „weder Fisch noch Fleisch“ seien, und das führe „zu einer verständlichen Verärgerung der Zuschauer. Vermutlich wären die Sendungen sogar erfolgreicher, wenn sie jeden Abend von Günther Jauch moderiert würden.“

In den USA sind Moderatoren wie Jay Leno oder David Letterman auf diese Weise zu Fernsehlegenden geworden. Der deutsche Polittalk, so Hallenberger, sei dagegen in der Regel keine Expertenrunde, sondern orientiere sich an Vorbildern wie „Drei nach neun“ (Radio Bremen). Gerade die Sonntagssendung sei seit Sabine Christiansen eine Art Zwitter: „weder Politik noch Unterhaltung, aber beides irgendwie doch.“ Politainment nennt die Branche diese Mixtur aus Politik und Entertainment.

Hallenberger stellt auch einen Zusammenhang zwischen den politischen Talkshows und dem zunehmenden Desinteresse an Politik her. Das Fernsehen sei dabei sowohl Symptom wie auch Ursache. Auslöser sei jedoch die politische Großwetterlage: „Weil der Handlungsspielraum des Parlaments immer kleiner wird, geht es in der öffentlichen Debatte weniger um Themen als um Gesichter.“ Da kein Jahr ohne Wahl vergeht, herrscht im Grunde permanenter Wahlkampf. Entsprechend oft geht es in den Talkshows nicht um die Sache, sondern um den besseren Eindruck, den man hinterlässt. Junge Menschen, sagt Hallenberger, seien dem allgemeinen Vorurteil zum Trotz zwar durchaus an Politik interessiert, „wollen aber mit dem traditionellen Politikbetrieb nichts zu haben.“ Dem Fernsehen gibt er dabei durchaus eine Mitschuld. Man wird sehen, ob es Raab gelingt, dies zu ändern.