Gegenwärtig entsteht in Rottweil ein Aufzugstestturm der Firma Thyssen-Krupp mit Deutschlands höchster Aussichtsplattform. Jetzt will ein Investor den Turm mit der längsten Hängebrücke der Welt an die Altstadt anbinden. Der OB ist begeistert. Aber wie viele Superlative braucht die älteste Stadt des Landes noch?

Baden-Württemberg: Eberhard Wein (kew)

Rottweil - Wer einen Blick in Rottweils Zukunft werfen will, der hört bei der Bürgerversammlung entweder dem Oberbürgermeister zu. Oder er setzt sich eine 3D-Brille auf: Links und rechts sieht man Stahlseile, die man instinktiv fassen möchte. Vor einem liegt die Altstadt mit dem Dominikanermuseum. Dann schweift der Blick das Neckartal hinab und stoppt auf der gegenüberliegenden Seite, wo sich der riesige Aufzugtestturm der Firma Thyssen-Krupp in den Himmel reckt. Wer dann nach unten schaut, gerät endgültig ins Wanken. Durch den Stahlgittersteg sieht man in 40 Metern Tiefe den Neckar sprudeln. Auf der Bahnstrecke rauscht ein ICE vorbei.

 

Unrealistisch ist nur Letzteres. Auf der Gäubahn wird es so schnell keinen Hochgeschwindigkeitsverkehr geben. Alles andere wähnt der Rottweiler Oberbürgermeister Ralf Broß (parteilos) am Donnerstagabend auf einem guten Weg. Der 246 Meter hohe Aufzugstestturm mit Deutschlands höchst gelegener Aussichtsplattform steht im Rohbau, im Frühjahr 2017 wird er eingeweiht. Und im folgenden Herbst könnte dann schon der Sekt für die Einweihung von Europas längster Fußgänger-Hängebrücke kalt gestellt werden. Broß, OB der ältesten Stadt in Baden-Württemberg – noch so ein Superlativ –, fehlt für ein perfektes Jahr 2017 dann wohl nur noch eines: ein Rekordergebnis bei der im Frühjahr 2017 stattfindenden OB-Wahl.

Das Bürgerforum gibt sich neutral

Doch gehen die Bürger das hohe Tempo ihres Oberbürgermeisters mit? Die Diskussionen über den Turmbau und die neue Justizvollzugsanstalt, die am Ende per Bürgerentscheid genehmigt wurde, hätten in der Stadt einiges verändert, sagt Erhard Hengsteler vom Bürgerforum. Der Verein hat sich eine stärkere Einbindung der Bürger in politische Prozesse zum Ziel gesetzt, steht dem Brückenprojekt aber nicht ablehnend gegenüber. „Früher waren wir in Rottweil doch sehr den Traditionen verhaftet.“ Jetzt passiere etwas.

Tatsächlich gibt es in der Stadthalle vor den Stellwänden, auf denen das Projekt präsentiert wird, viele positive Stimmen. Später stellen Anwohner kritische Fragen, andere warnen vor einer Pilgerstätte für Suizidgefährdete und kritisieren den zunehmenden Gigantismus in der Stadt. Auch der ehemalige Stadtarchivar Winfried Hecht grantelt. „Wir würden gut ohne Brücke auskommen“, sagt er. Sie beeinträchtige die Landschaftsästhetik. Von Stuttgarter Freunden habe er den Satz gehört: „Es gibt keinen Blödsinn, den die Rottweiler nicht gemacht haben müssen.“

100 000 Besucher zusätzlich dank des Turms

Der OB sieht es anders: „Man muss das Eisen schmieden, so lange es noch heiß ist.“ Schon vor drei Jahren, als in der Stadt um die Realisierung des Aufzugstestturms gerungen wurde, war diese Forderung laut geworden: Die Stadt möge sich doch bitteschön um eine Anbindung des auf der anderen Neckarseite gelegenen Baus an die mittelalterliche Altstadt bemühen. Schließlich, so hatte eine Studie ergeben, sei mit 100 000 zusätzlichen Besuchern im Jahr zu rechnen. Die sollten nach der Turmbesichtigung nicht einfach an den Bodensee weiter fahren, sondern in die Stadt geleitet werden. Nur so könnten Handel und Gastronomie profitieren.

„Wir könnten natürlich auch einen Shuttlebus einrichten“, sagt Broß. Doch wie hätte der OB die Turmbesucher da hineinbekommen? Bei der Brücke ist er sich hingegen sicher: „Wer sie vom Turm aus sieht, will sie betreten und dann auch die Altstadt erkunden.“ Direkt am Dominikanermuseum soll der 950 Meter lange Steg enden. Dort wird das antike Holztäfelchen verwahrt, das Rottweils Stadtrechte auf das Jahr 186 nach Christus datiert.

Ein Maurermeister will Millionen investieren

Dass die Idee ihren Preis hat, war Broß von Anfang an klar. Für ein sechs Millionen Euro teures Tourismusprojekt würde er nie und nimmer das Ja des Gemeinderats erhalten. Doch dann trat Günter Eberhardt auf den Plan. Der Mann aus Hohentengen im Kreis Sigmaringen tritt in Jeans und kariertem Hemd vor das Publikum. Vom Maurermeister hat er es zum Unternehmer gebracht, war mit seiner Betonbauspezialfirma beim Bau des Sony-Centers in Berlin dabei. Jetzt beliefert er die Baustelle einer riesigen Moschee in Algerien. Zuvor hat er mit 50 Mitarbeitern am Rottweiler Aufzugturm mitgebaut. Im Januar kam er dann erneut in die Stadt. Zum Jahresbeginn „habe ich noch nicht so viel zu tun, sonst wäre ich vielleicht gar nicht hingefahren“, sagt er trocken. Da wurde ihm das Projekt präsentiert. Von der Idee sei er sofort überzeugt gewesen.

Jetzt will er auf eigene Rechnung den Brückenschlag wagen. „Einmal im Jahr braucht der Chef etwas Spannendes“, sagt Eberhardt, das Projekt sei eine „abnormal große Chance, die Stadt voranzubringen. Ich höre da auf mein Bauchgefühl“ – und zumindest Bauch hat er.

Hängebrücke nach tibetischer Art

Martin Kathrein und Paul Nessler sind hingegen rank und schlank. Die beiden Österreicher, Marke Outdoor-Sportler, haben in ihrer Heimat Reutte die bisher längste Hängebrücke der Welt konstruiert. Im Tibet-Style überwindet sie eine 400 Meter breite Schlucht zwischen zwei Burgruinen. Jetzt planen sie die doppelt so lange Rottweiler Brücke. „Die Schwierigkeit liegt in der Länge“, sagt Kathrein. Zudem macht die Brücke nach zwei Dritteln der Wegstrecke einen Knick, um an der richtigen Stelle anzulanden. „Wir werden zusätzliche Stützen brauchen“, sagt der Statiker Nessler. Deshalb wird der Brücke in Reutte den offiziellen Eintrag in Guinness-Buch wohl behalten.

Früher ließen die Autofahrer, die in die Wintersportgebiete streben, die beiden Ruinen bei Reutte links und rechts liegen. Das hat sich geändert, seit der imposante Steg in 100 Metern Höhe über der Bundesstraße hängt. Acht Euro kostet der schwindelerregende Gang. Ein ähnlicher Preis ist auch für Rottweil denkbar. „Vielleicht kreieren wir ja zusammen mit Thyssen-Krupp ein Kombiticket“, sagt OB Broß.