Kultur: Stefan Kister (kir)

Aber was ist in diesem trickreich und verwinkelten Erzählgefüge schon normal. Normal sind Bücher, denkt Natalie an einer Stelle, in denen immer irgendwann einmal ein Hund bellt. Hier dagegen wird Abendstimmung so beschworen: „Irgendwo in der Erdatmosphäre bellte ein Satellit.“ Mehr als die Lust an einer Geisterbahnfahrt mit durchgeknallten Typen sind es Abweichungen solcher Art, mit der Setz den Leser in seine Welt hinein zieht. In ihnen bleibt die Konvention noch kenntlich, geht jedoch völlig neue und unerwartete Verbindungen ein. Dieses Prinzip bestimmt die kleinsten Einheiten wie Metaphern und Vergleiche. Beispielsweise wenn dem misogynen Herrn Dorm beispielsweise im Kontakt mit seiner Pflegerin ein Geräusch entfährt, „als hätte man ihm gerade mitgeteilt, er habe sich in ein Nest pestkranker Ratten gesetzt“. Oder wenn der leicht erschöpfbare Herr Hollberg während eines gemeinsamen Ausfluges wirkt wie jemand, der eine Waschmaschine auf den Mount Everest geschoben hat. Manche Menschen wiederum sind so ausdruckslos, dass ihr Gesicht „wie ein Goldfischglas für den darin lebenden Schnurrbart erscheint“.

 

Das gleiche Verfahren treibt auch die Handlung in immer labyrinthischere Wendungen. Was Natalies ehemaliger Autorenfreund bei Gelegenheit erklärt, dass man das Geschehen nicht an sich selbst oder an Wendepunkten aufhängt, sondern an leuchtenden Details, beschreibt das Bauprinzip genau. Mal erscheint ein Gesicht wie der Mond in einem Küchenfenster, mal torkelt ein ölverschmierter Vogel durch ein Zimmer, mal verwandelt sich eine Frau in eine Gitarre. Alles hat Folgen und irgendjemand läuft immer irgendjemand anderem hinterher. So wuchert das Arrangement, das die Figuren verbindet, zu einem undurchdringlichen Netzwerk aus demolierten Zitaten und zufallsgenerierten Zusammenhängen. Je mehr sich Natalie darin verstrickt, desto mehr beschleicht sie ein sanftes Gefühl von Paranoia: „Hatten die anderen gleich zu Beginn schon geahnt, das all das passieren würde?“

Der mit Sicherheit verrückteste Roman dieses Jahres – für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominiert – ist gleichzeitig der, der am verschwenderischsten über die Mittel gebietet, mit der Literatur die Welt eben nicht verdoppelt, sondern neu erschafft. Das Missverhältnis zwischen einnehmenden Fähigkeiten und zweifelhaften Absichten ist seit je charakteristisch für den Typus des Verführers. Wir wissen nicht, was Clemens Setz mit uns anstellt, aber wir können nicht anders, als ihm zu folgen.