Neuer Roman von Edouard Louis Er ist jetzt ein anderer

Edouard Louis Foto: imago/Sven Simon/Elmar Kremser/SVEN SIMON

Starkes Stück: Mit der „Anleitung ein anderer zu werden“ setzt Édouard Louis seinen autobiografischen Bildungsroman fort.

Nach einigen schwachen Büchern, in denen Édouard Louis sich nicht entscheiden konnte, ob er einen Roman, einen soziologischen Essay oder doch ein politisches Pamphlet verfassen will, knüpft sein neues Werk „Anleitung ein anderer zu werden“ wieder an sein erfolgreiches Debüt „Das Ende von Eddy“ an. Das Buch „Changer: méthode“, an dem der Autor vier Jahre lang gearbeitet hat und das in der Übersetzung von Sonja Finck jetzt auf Deutsch vorliegt, setzt das mit dem Erstling begonnene Projekt des autobiografischen Schreibens fort.

 

„Das Ende von Eddy“ war eine wütende Abrechnung mit dem bildungsfernen und homophoben Milieu der Arbeiterklasse in einem 1000-Seelen-Dorf in der Picardie, wo der Schriftsteller in prekären Verhältnissen aufgewachsen ist und wegen seiner Homosexualität als Außenseiter gemobbt wurde.

Der Verwandlungsprozess beginnt

Es schloss damit, dass dem 14-jährigen Teenager aus der Unterschicht der Sprung aufs Gymnasium in der nächstgelegenen größeren Stadt Amiens gelingt. Dort wird der junge Mann mit einer ihm völlig fremden Welt konfrontiert: Seine Mitschüler stammen aus der Mittelschicht, reden anders als er, haben eine andere Körperhaltung, sind anders gekleidet und verbringen ihre Freizeit anders, als er das bisher getan hat. Noch ohne Pierre Bourdieus soziologischen Klassiker „Die feinen Unterschiede“ gelesen zu haben (das wird er später als Student in Paris tun), spürt er instinktiv, dass er sich radikal verändern muss, wenn er sich in diesem sozialen Milieu behaupten will.

Seine Mentorin bei diesem Verwandlungsprozess wird Elena, eine Mitschülerin aus einer bildungsbürgerlichen Familie, mit der er sich anfreundet: „Nach der Begegnung mit Elena entschied ich mich für einen neuen Lebensstil, für die Codes einer neuen Klasse und für alles, was damit in Verbindung stand, Kunst, Literatur, Film, weil ich auf diese Weise Rache für meine Kindheit nehmen konnte.“

Er will immer mehr

In Elenas Elternhaus lernt er die bürgerlichen Tischsitten, den Small Talk über kulturelle Themen, lauscht mit ihrer Familie dem „Deutschen Requiem“ von Brahms, statt wie einst zu Hause sich stundenlang vom Trash-Fernsehen berieseln zu lassen. Er versucht, seinen Dialekt abzulegen, beginnt, Sport zu treiben und sich von Lebensmitteln aus dem Biomarkt zu ernähren, bis sich das Pummelchen aus dem Dorf zu einem smarten Jüngling gemausert hat, der seine Krawatte mit dem Windsor-Knoten bindet. Vollendet wird dieser Verwandlungsprozess, als ihn Elenas Mutter mit dem aparten Vornamen Édouard anredet und er mit dem Allerweltsnamen Eddy auch seine Vergangenheit ablegen kann.

Hier hätte die Aufsteigerstory enden können: Einem Sohn der Arbeiterklasse gelingt der Aufstieg in die Mittelschicht, er beginnt ein Studium der Geschichte, um Lehrer am Gymnasium zu werden – mit der Perspektive, irgendwann wie Elenas Eltern zu den Honoratioren einer französischen Kleinstadt zu gehören.

Aber Édouard will mehr, will nicht in der Provinz versauern, sondern wie die Helden aus den französischen Romanen des 19. Jahrhunderts die Hauptstadt erobern. Deshalb begeht er nach dem Verrat an seiner Herkunft aus der Arbeiterklasse einen zweiten Verrat: Er verlässt Elena und die „Säuerlichkeit“ der bildungsbürgerlichen Mittelschicht und zieht nach Paris. Der Mentor bei diesem Prozess wird Didier Eribon, den er an der Uni in Amiens kennengelernt hat. Er ermuntert Édouard, sich um die Aufnahme an der Pariser Elitehochschule École normale supérieure zu bewerben, was ihm schließlich auch gelingt.

Soziales mischt sich mit sexuellem Begehren

Der Umzug in die Hauptstadt geht einher mit Édouards homosexuellem Coming-out. Er lässt sich in den schwulen Bars von reichen Männern abschleppen: „Heute weiß ich, dass ich immer die Männer ansprach, die am distinguiertesten wirkten, die aussahen, als hätten sie Geld; mein soziales Begehren vermischte sich mit meinem sexuellen Begehren.“

Der eine finanziert ihm eine Wohnung, der andere ein neues Gebiss, der dritte nimmt ihn mit zu den Festivals in Salzburg und Aix-en-Provence, der vierte zu festlichen Abendessen, in dem sich Großbourgeoisie und Adel mischen. Aus dem hässlichen Entlein aus der abgehängten Provinz ist der verhätschelte Prinz von Saint-Germain-des-Prés geworden.

Das Kapitel über die Freundschaft mit Elena und den Verwandlungsprozess, den sie anstößt, ist das Beste, was Édouard Louis seit seinem Debüt geschrieben hat. Die späteren Teile des Buchs über das Leben in Paris erreichen diese Verknüpfung einer „éducation sentimentale“ mit dem präzisen Blick auf die Klassenverhältnisse nicht mehr. Hier zählt er nur noch die Männer auf, die er kennengelernt hat, führt eine Liste seiner Liebhaber wie Leporello in „Don Giovanni“, ohne dass man Genaueres über sie, über ihre oder seine Gefühle erfährt. Schade.

Édouard Louis: Anleitung ein anderer zu werden. Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Sonja Finck. Aufbau-Verlag, 272 Seiten, 24 Euro.

Aus Eddy wird Edouard

Édouard Louis Der 1992 in einem prekären Arbeitermilieu in der Picardie unter dem Namen Eddy Bellegueule geborene Autor wurde nach der Veröffentlichung seines autobiografischen Debüts „Das Ende von Eddy“ 2014 als neuer Shootingstar der französischen Literatur gefeiert. Das Buch wurde in mehrere Dutzend Sprachen übersetzt; von dem davon inspirierten Film „Marvin“ von Anne Fontaine hat sich der Autor allerdings distanziert.

Weitere Werke Sein Projekt des autofiktionalen Schreibens hat Édouard Louis in Büchern wie „Im Herzen der Gewalt“, „Wer hat meinen Vater umgebracht“ und „Die Freiheit einer Frau“ fortgesetzt, sich aber gleichzeitig mit seinen Intellektuellen-Freunden Didier Eribon und Geoffroy de Lagasnerie auch in die innenpolitischen Auseinandersetzungen in Frankreich nach den Gelbwesten-Protesten eingemischt.

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