Der in Stuttgart lebenden Österreicher Heinrich Steinfest hat einen neuen Roman geschrieben. Der Autor bleibt seiner Linie treu: „Der Allesforscher“ erzählt von einem Kind mit wundersamen Fähigkeiten.

Stuttgart - Kinder sind die große Liebe des Erzählers Heinrich Steinfest. Nicht irgendwelche Rotzlöffel und Schreihälse, sondern so eigensinnige wie einsichtige Buben und Mädchen, die zu untadeligen, zutiefst makellosen Gegenbildern der oft von schweren Makeln und Macken behafteten, oft tadelnswerten erwachsenen Figuren seiner Romane taugen. Das bis dato letzte Buch des in Stuttgart lebenden Österreichers aus Australien hieß sogar „Das himmlische Kind“. Mit dem titelgebenden „Allesforscher“ des neuen Romans ist, wie sich zeigt, ebenfalls ein Kind gemeint (und was für eins!), ja, den Titel selbst verdankt der Autor, wie er in der Nachbemerkung bekanntgibt, ebenfalls einem Kind: seinem eigenen kleinen Sohn, dem das Wort „Allesforscher“ als Alternative zum Ausdruck „Universalgelehrter“ eingefallen ist.

 

Das Kind, um das der Roman sich dreht, ist der erstaunliche Simon. Den Jungen im Vorschulalter lernt der Ich-Erzähler Sixten Braun erst kennen, als Simons Mutter, mit der ihn eine kurze, aber einschneidende Liebesgeschichte verbunden hatte, bereits seit Jahren nicht mehr lebt. Sie, eine Deutsche namens Lana Senft, war Sixtens Ärztin gewesen, als dieser nach der schicksalhaften Begegnung mit einem explodierenden Pottwal mit Schädel-Hirn-Trauma im Krankenhaus in Taiwan lag. Irgendwann tritt eine Mitarbeiterin der taiwanischen Vertretung in München auf ihn zu und nötigt ihn, die Verantwortung für den kleinen Simon zu übernehmen. Der Bub könnte der Spross aus Sixtens Verbindung mit besagter Frau Dr. Senft sein, aber er ist es nicht, nicht biologisch. Dennoch nimmt Sixten die Vaterrolle mit geradezu leidenschaftlicher Begeisterung an. Die junge Frau von der Vertretung wiederum, Kerstin, entpuppt sich als diejenige, mit der Sixten nicht nur den Verlust von Lana überwindet, sondern auch ein weiteres familiäres Trauma aufsuchen kann, den Jahrzehnte zurückliegenden Kletterertod seiner Schwester Astri in Tirol, in den Tuxer Alpen.

Haben wir vorhin die schicksalhafte Begegnung mit einem explodierenden Pottwal erwähnt? In der Tat. Und das ist bei Weitem nicht das unwahrscheinlichste Ereignis in diesem wieder einmal von unerwarteten Begebenheiten und überraschenden Wendungen geradezu strotzenden Roman. Sixten etwa überlebt nach der Genesung von der Wal-Episode einen Flugzeugabsturz im Chinesischen Meer (wobei ihm die Selbstrettung nur auf Kosten seines Sitznachbarn gelingt), er trennt sich von seiner Verlobten (allerdings erst zwei Jahre, nachdem er sie geheiratet hat) und tauscht ein Manager-leben mit jeder Menge Geld in Köln gegen eine bescheidene Existenz in Stuttgart als Bademeister im Mineralbad Berg.

Das Degerlocher Kind entpuppt sich als Überflieger

Mit Simon setzt sich die Kette der geradezu außerirdischen Unwahrscheinlichkeiten gesteigert fort. Das Kind spricht eine Sprache, die niemand versteht, und es erweist sich allenthalben als kleiner Überflieger: beim Klettern an künstlichen Felsen auf der Waldau in Stuttgart-Degerloch, beim Zeichnen, erst beim Puzzle-, dann beim Go-Spiel. Irgendwann vermutet einer, Simon sei ein Alien (womit bei Steinfest jederzeit zu rechnen wäre), aber eher ist er, siehe oben, die himmelsbotenhafte Trosterscheinung in einer untröstlichen Erwachsenenwelt. Und der Einzige, der daran denkt, mitten im Sommer statt einer Sonnen- eine Skibrille auf eine Bergwanderung in den Tuxer Alpen – in Tirol – mitzunehmen, wo dann prompt heftiger Schneefall einsetzt.

Schließlich kommt auch noch Simons leiblicher Erzeuger ins Spiel, der unfassbar gut aussehende Chinese Auden Chen, der ein Vermögen mit geheimnisvollen Fruchtbarkeits-Kosmetika und mit Lana Senft den kleinen Simon gemacht hatte, bevor er vor einem Killerkommando fliehen musste – eine Flucht, die ihn als Koch auf eine matriarchalisch geführte Berghütte nach Tirol führt. Und man vermutet richtig: in den Tuxer Alpen. Steinfest-Leser kennen das: scheinbar zielloses Herumstreunen in dieser Wunderkammer-Welt hinter den Spiegeln, den eigenen Einfällen, Recherchefrüchten und Motiven, die dann atemraubend (und mit einiger Dreistigkeit) enggeführt werden, krachende Effekte, durch eingeschobene Rückblenden und Vorgriffe ins kaum mehr Erträgliche hinausgezögert und durch Einsatz von Maximen und Reflexionen so gefirnisst, dass, was tatsächlich geschildert wird, ins Schillern und Schwimmen gerät.

So, wie bei dem gerahmten Foto unter Glas, auf das Sixten zufällig beziehungsweise von der Vorsehung geleitet beziehungsweise von der Erzählung gesteuert im Flur einer weiteren Berghütte trifft: Da „konnte ich wegen der Spiegelung, die die durchbrechende Sonne verursachte, zunächst einmal nur mich selbst sehen, wie ich da mit zusammengekniffenen Augen versuchte, die Fotografie zu betrachten, und statt dessen nur Gekniffenes erkannte. Ich neigte den Kopf etwas zur Seite, um einen günstigeren Blickwinkel zu gewinnen (. . .) Bisher hatte ich sie wegen der starken Reflexion nicht wahrgenommen, aber indem nun eine Wolke vor die Sonne zog und dem hereinfallenden Licht einen Schleier verlieh, verlor sich der Widerschein, und ich sah alle Teile des Bildes, auch die zwei Frauen im Hintergrund.“

Seine Geschichten sind wie surreale Malerei

Eine dieser zwei Frauen ist Lana Senft, kurz vor ihrem Tod, mit Baby Simon im Tragetuch auf Bergwanderung. Die Ironie an der Geschichte: Sixten sieht mitnichten „alle Teile des Bildes“, denn die wahre Beziehung desjenigen, der hinzutritt und ebenfalls fasziniert auf die Fotografie starrt, zu „seinem“ Sohn erkennt er nicht. Und dieser wiederum – es handelt sich um Auden Chen – . . . na, wenigstens dies sei nicht verraten. Nur so viel: zu dem, was man im Alltagsleben meint, wenn man von Klärung spricht, kommt es, auch das kennen Steinfest-Leser, nicht. Aber zu Schönheit von beträchtlichem Ausmaß.

Schönheit vor allem ist das, was Heinrich Steinfest in seinem wie von der Traumlogik konstruierten Roman entstehen lässt, die Schönheit des absichtslosen Spiels mit glitzernden, mal schnell dahinschießenden, mal aneinanderkullernden Glasmurmeln, eine Art Schau, die – trotz aller Lust am scheinbar erklärenden Zwischenruf, am pointensicheren Aphorismus, am ausgetüftelten Wie-Vergleich, kurz: an den Mechaniken des Diskursiven – eher „funktioniert“ wie die surrealistische Malerei, mit der Steinfest sich vor dem Schreiben erzählender Prosa beschäftigt hat. Das machte schon die Lektüre seiner Kriminalromane für die einen so besonders reizvoll und für die anderen schwer genießbar. Seitdem Heinrich Steinfest die bändigenden Fesseln des Genres abstreift, stellt sich dies durchaus als Formproblem dar. Aber keines, das man nicht überwinden könnte, mit etwas Geschick und den richtigen Griffen. Es bleibt spannend.