Kultur: Stefan Kister (kir)

Wir beschäftigen uns stattdessen mit dem Paradox des kretischen Lügners und lesen dazu den Roman ein wenig quer, was bei Wolf Haas, der über die sprachtheoretischen Grundlagen der konkreten Poesie promoviert hat, durchaus wörtlich zu nehmen ist: Wenn ein Kreter sagt, alle Kreter lügen, dann ist der Satz richtig, wenn er falsch ist, und umgekehrt. Mit Sprache über Sprache zu sprechen versetzt der Ordnung der Vernunft den Todesstoß. Es ist nach den Gesetzen der Logik deshalb strikt verboten. Basta. Wer sich nicht daran hält und an die Sprache rührt, wird so irr wie „verruckte Kuhen“.

 

Aber genau dies tut Wolf Haas unentwegt. Schon auf dem Umschlagbild hält der Autor höchstselbst dem Leser seinen Roman entgegen, und der ist bevölkert von Menschen, die im Begriff sind, ihn zu lesen, was wiederum der Handlung entschieden neue Wendungen gibt, etwa wenn die Frau der Hauptfigur auf diesem Weg von diversen Hamburgerverkäuferinnen erfährt und den armen Haas schließlich als blöden Hund beschimpft, als trage der irgendeine Schuld an der Liebeskrankheit ihres Mannes. Verrückt.

Triumph der Literatur über das Leben

Für das Normale gibt es eigentliche keine speziellen Ausdrücke, nur für das Besondere und Abweichende, stellt Lee Ben bei seinen amourösen Spracherkundungen fest. Mit einer Ausnahme: der Missionarsstellung. „Es kommt mir eigenartig vor, dass es für die normalste Stellung so ein interessantes Wort gibt“, sagt seine holländische „Gevögel“-Freundin an einer Stelle. Und fügt hinzu: „Gegen die spießige Vorstellung der Optimierung muss man doch die einfache Innigkeit der Missionarsstellung verteidigen.“ So kommt der Roman zu seinem Namen. Wenngleich man nicht behaupten kann, dieser mit typografischen Extravaganzen aller Art gespickte Frontalangriff auf Logik und Kausalität, der Dichtung und Wahrheit wie auf einer Zeichnung des niederländischen Perspektivenverdrehers M.C. Escher ineinanderschlingt, stimuliere in irgendeiner Weise unseren Sinn für das Gewöhnliche. Ganz im Gegenteil. Wolf Haas erringt mit diesem Buch einen wunderbaren Sieg der Zeichen über die Wirklichkeit. Ein Triumph der Literatur über das Leben.