Das Stuttgarter Ballett zeigt den Abend „Fortschrittmacher“ mit Stücken von Forsythe, van Manen und Goecke.

Stuttgart - Diesen Ballettabend-Titel darf man einfach einmal wörtlich nehmen: Fortschrittmacher. Denn das sind wohl Menschen, hier: Choreografen, die einen Schritt fort machen. Weg von dem, was gewohnt und anerkannt ist. Weg von Traditionen, weg von Vertrautem, das Sicherheit und Geborgenheit zu versprechen scheint – zugleich aber die Gefahr der Langeweile bergen kann. Und langweilig, das war sie auf keinen Fall, die Premiere des neuen Ballettabends des Stuttgarter Balletts am Freitagabend im Opernhaus: Die „Fortschrittmacher“.

 

Werke dreier Choreografen stehen auf dem Programm. Alle haben eine besondere Verbindung zum Stuttgarter Ballett. Und alle haben einen Schritt „fort“ gemacht von der Tradition des klassischen Tanzes – jeder freilich in eine andere Richtung: William Forsythe, Hans van Manen und Marco Goecke. Eine gute Sache ist es, dass die „Frank Bridge Variations“ von Hans van Manen nicht am Anfang des Programms stehen, wie es die Chronologie der Geburtsdaten hätte nahegelegen können, sondern in der Mitte. Vielleicht ist die Abfolge auch den Daten der Uraufführungen geschuldet? Die ästhetische Reinheit von van Manens Tanzsprache wirkt jedenfalls wie ein ruhender Pol zwischen den eher aufwühlenden Werken von Forsythe und Goecke – dessen „On velvet“ an diesem Abend uraufgeführt wird.

Es ist das letzte Stück des Abends, aber mit Sicherheit jenes, was im Opernhaus mit der größten Spannung erwartet wurde. Seit 2010 hat der Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts kein Stück mehr für die Bühne des großen Hauses geschaffen.

Bekannte Elemente aus Goeckes Vokabular finden sich in „On velvet“ wieder zu Johannes Maria Stauds „Segue – Musik für Violoncello und Orchester“ (Solo-Cello: Zoltan Paulich) und Edward Elgars „March of the Mogul Emperors“ aus der „Crown of India Suite“.

Düster ist die Stimmung, Hauptakteur ist der menschliche Oberkörper mit enorm schnellen, zuckenden Bewegungen – so, als würde der beschriebene Weg der Gliedmaßen während der Entstehung der Geste zersplittern. Die Tanzenden sieht man oft von hinten. Aber nicht nur. Namenlos bleiben sie dennoch. Sie tauchen auf im Dämmerlicht auf der Bühne und verschwinden wieder im Dunkeln (Licht: Udo Haberland).

Beunruhigend wirkt das, und anstrengend ist es auch. Aber gerade das berührt, wühlt auf. „Blue Velvet“, damit sind wohl auch die wie Kinosessel wirkenden Sitzreihen hinten auf der Bühne bezogen (Bühne und Kostüme: Michaela Springer). Wie aus dem Nichts tauchen darauf Gestalten auf, die das Geschehen auf der vorderen Bühne wie gleichgeschaltet zu kommentieren scheinen. Nichts, was dort vor sich geht, ist selbstbestimmt. Alle Akteure sind wie getrieben. Fast möchte man meinen, die elektronischen Impulse, die durch menschliche Synapsen und hoch entwickelte Computer jagen, haben nun auch die menschlichen Blutbahnen erobert und steuern willenlose Objekte, die sich bereitwillig manipulieren lassen.

Bis auf einen Menschen: Er lässt sich nicht beirren, hat sein eigenes, gemächliches Tempo und wandelt mit langsam in Pendelbewegung schwingenden Armen aus dem Dunkel der Sitzreihen nach vorn. Ihm folgt ein Schatten – seinesgleichen? Mitnichten. Er pirscht sich heran, beschmiert das Individuum mit schwarzer Farbe und zerstört damit die harmonische Ruhe. Furios ist der Schluss mit dem Solo von Marijn Rademaker, der offenkundig eins ist mit Goeckes Tanzsprache. Sein Solo spielt sich größtenteils auf dem Boden ab. Situps in vielerlei Varianten hat der Choreograf zusammengefügt. Aber wie: Rademaker macht daraus eine lebendige Erzählung. Packend, spannend und mit einem Schuss unbestimmbarer Erotik. Grandios, intensiv – eine Explosion pulsierender Emotionen nach der lauernden Kühle der vorangegangen Szenen.

Wie gut, dass sich das Gemüt zuvor bei Hans van Manens 2005 uraufgeführten „Frank Bridge Variations“ nach der gleichnamigen Komposition von Benjamin Britten hat entspannen können. Ein Genuss ist es, der puren Schönheit der fließenden Bewegungen der fünf Paare zu folgen, bei den humorvollen Abgängen der jeweiligen Protagonisten unwillkürlich zu schmunzeln und sich an den mit Delikatesse abgestuften Farbklängen von Keso Dekkers Ausstattung zu weiden.

Obgleich ohne Spitzenschuhe getanzt atmen die sich immer wieder neu formierenden Gruppierungen den Geist der klassischen Ästhetik, deren Harmonie zwar in großen Zügen beibehalten wird, die aber durch einfallsreiche Details und das Leben spendende Element der Menschlichkeit eine entscheidende Bereicherung erfährt. Ein Hochgenuss sind die schlicht wunderbar getanzten Pas de deux der Paare Maria Eichwald/Marijn Rademaker und Alicia Amatriain/Evan Mc Kie.

Der Abend beginnt indes mit dem 1998 in Frankfurt uraufgeführten „Workwithinworks“ von William Forsythe – übrigens an diesem Abend eine Erstaufführung beim Stuttgarter Ballett. Das Publikum bekommt ein Stück zu sehen, das wichtige Elemente von Forsythes choreografischer Handschrift enthält. Zum Spiel der beiden Soloviolinen (Wolf-Dieter Streicher, Luminitza Petre) von Luciano Berios „Duetti per due violini vol. 1“ wird die Idee der Zweiteilung immer wieder anders gedacht und durchdekliniert.

Das fängt an bei der choreografischen Struktur, die Gruppen unterschiedlicher Größe zeitgleich auf der Bühne polyzentrisch agieren lässt. Die Gruppenformationen wechseln mit spannenden Pas de deux, mal gemischt, dann wieder bleiben Männer und Frauen unter sich.

Ein prägendes Element ist das starke Überdehnen und Verdrehen der menschlichen Gliedmaßen, bis es einem sogar nur beim Zuschauen beinahe weh tut; ein anderes ist die rasend schnelle Abfolge verschiedener Isolationen, Bewegungen einzelner Körperteile in vollkommener Unabhängigkeit vom Rest des Organismus.

Dem gegenüber stehen elegante Spiralen sowie Schritte aus dem klassischen Repertoire, die zeitweise zum insistierenden Ostinato nach Machart der Minimal Music synchron getanzt eine bezwingende Motorik und rhythmische Kraft entfalten.

Forsythe lässt seine Ballerinen auf Spitzenschuhen tanzen – mit schwebenden Geistwesen haben sie dennoch nichts gemein. Sie sind sehr präsent, und es ist offensichtlich, wie viel tänzerische Virtuosität diese Form des Spitzentanzes erfordert. Viel und lang anhaltenden Applaus gibt es für die drei „Fortschrittmacher“, für eine Ballettkompanie in Bestform und ein differenziert und farbenreich spielendes Staatsorchester unter Leitung von James Tuggle.