Tiemo Hauers neues Album „Camille“ klingt nach Echt, Philipp Poisel und ein bisschen auch nach Stuttgart, also gefällig und ohne größere Ecken und Kanten. Aber es gibt da noch eine bisher weniger bekannte Seite dieses Stuttgarter Musikers.

Digital Desk: Jan Georg Plavec (jgp)

Stuttgart - Wenn dereinst die Pop-Rückblicke auf die 2010er-Jahre geschrieben werden, dürften Tiemo Hauer, Philipp Poisel und Tim Bendzko unter dem Kapitel „deutscher Pop“ prominent auftauchen. Bereits 2012 sah der „Rolling Stone“ in den „braven Bubis“ eine neue Generation deutscher Popkünstler und brachte einen großen Text über „die Matthias Schweighöfers des deutschen Pop“. Gut finden muss man die nicht zwingend, wenn man sich als ernsthaftes Popmagazin versteht. Zumindest für den Stuttgarter Tiemo Hauer ließ der Autor aber Sympathie durchscheinen und zitierte Hauer auf die Frage nach der Intention seiner Musik mit den Worten: „Dass man dabei etwas fühlen kann.“

 

Womit sich die Frage stellt, wie man das macht – dass die Leute bei Musik etwas fühlen. Im Fall von Tiemo Hauer und dessen neuem Album „Camille“ lautet das Zauberwort „Verständlichkeit“. Der Hörer soll verstehen, und zwar erstens: die Texte. Sie sind bei Hauer voller einfacher Paar- und Kreuzreime, wie sie – pardon – auch talentiertere Mitglieder der Lyrik-AG an dem von Hauer besuchten Degerlocher Wilhelms-Gymnasium hinbekämen, sofern es am Wilhelms-Gymnasium eine Lyrik-AG gibt.

Altklug? Egal.

Aber Hauer will unmittelbare Emotionen auslösen, und in Zeilen wie diesen werden sich viele Hörer sofort wiederfinden: „Ich weiß ich bin für dich bestimmt / Du weißt ich bin ein gebranntes Kind / Doch ich brauch dich hier bei mir / Alles dreht sich mit dir“ (aus dem Song „Bleib bei mir“) . Diese Hörer wird dann auch die phasenweise altkluge Haltung des 24-Jährigen („Alles, was ich fühlen wollte, habe ich gespürt / Aber alles was ich schrieb, ist was davon übrig blieb“) nicht stören.

Was der Hörer zweitens verstehen soll: die Musik. Auch hier kommt Hauer direkt auf den Punkt, es gibt keine zweite Ebene, sondern nur Hauers aufgekratzt-schmachtenden Gesang à la Kim Frank von Echt. Und es gibt Hauers Klavier, das er ganz gefühlig spielt, wenn’s dem Hörer nahe gehen soll; um Ärger auszudrücken, hackt Hauer in die Tasten und wenn im Refrain eine Art Freiheitsgefühl ausgedrückt werden soll, gibt es Piano-Kaskaden à la Ten Sharp („You Were Always on my Mind“), natürlich abzüglich diverser Frühe-Neunziger-Spielereien.

In Musik gefasstes Spätsommergefühl

Ansonsten erinnert der Sound des Albums stark an die bereits erwähnte norddeutsche Band Echt, die in den späten Neunzigern Teenie(alb)träume in Musik fasste. Dazu: warme Klangfarben, ein aufgeräumtes Schlagzeug, Synthie-Sprenkel für den zeitgemäßen Sound. Das ist Songwriter-Pop mit Indie-Einschüben. Akzente setzen der stellenweise zweistimmige Gesang, wie ihn Hauers Stuttgarter Kollegen von Heisskalt ebenfalls kultivieren, und die Gitarren dürfen ganz selten auch mal verzerrt klingen. Dieses Album ist in Musik gefasstes Spätsommergefühl, es will beides sein: sommerliche Leichtigkeit und Herbstmelancholie. Dazu passt auch das Albumcover.

Drittens werden Vielhörer manche Phrase aus anderen Songs wiedererkennen. „Ich seh dich nicht“ beispielsweise erinnert an „Dear Darlin“ von Olly Murs, löst die Spannung aber auf kantigere Art und Weise auf. Das Intro von „Adler“ klingt wie eine eingedeutschte Version von U2s „I still haven’t found what I’m looking for“. Der Grund ist nicht, dass Tiemo Hauer ein geschickter Plagiator wäre – er bedient sich einfach aus dem Pop-Baukasten und sucht sich die Teile raus, die sich bewährt haben.

Der Rock’n’Roller unter den Schweighöfers

Zurück zur Ursprungsfrage: Fühlt man bei „Camille“ etwas? Die Antwort: Aber ja doch, zumindest sofern man dafür nicht den intellektuellen Stimulus braucht, um die Ecke denken zu müssen. Ja, Tiemo Hauer zielt (erfolgreich) auf den Mainstream. In der besagten Dreier-Riege der „Matthias Schweighöfers des deutschen Pop“ ist allerdings er der Rock’n’Roller – vom Look her, von der Musik her, auch was seine Biografie angeht. Der Mann hat schließlich nach wenigen Monaten einen Deal mit Universal wieder aufgelöst.

Hauers Musik und Texte sind an andere Teile der Popkultur zumindest anschlussfähig, er singt von „Sigur Rós im Regen“ und vom „Rotebühlplatz 4, in der Linken eine Kippe, in der Rechten ein Bier“. Wer weiß, dass unter dieser Stuttgarter Adresse sowohl der Keller Klub als auch das Cro-Label Chimperator firmieren, freut sich kurz über dieses Stück Lokalpatriotismus. Die im Booklet abgedruckte Flasche Whisky lässt an manch andere Katastrophe im Stuttgarter Nachtleben denken, in dem sich Hauer offenbar auch auskennt.

So wird ein Schuh daraus

Tiemo Hauer macht vieles selbst, auf seinem Label Green Elephant Records kam kürzlich das hervorragende Album der vielversprechenden Stuttgarter Band Kids of Adelaide heraus. Wenn deren englischsprachiger Folk-Pop das eine, Hauers zeitgenössischer Songwriter-Pop das andere Ende des Klangspektrums sind, wird ein Schuh daraus.

Während sich der Schnulzensänger Philipp Poisel an seinen Vater im Geiste, konkret: an Max Herre dranhängt, versucht sich Tiemo Hauer an seinem eigenen Ding. An mancher Stelle klingt das wirklich wie ein Stuttgarter Ding.

Der wirklich gute, weil innovative Teil findet sich abseits der 16 Songs langen regulären CD – auf der Bonus-CD mit dem Titel „Dunkle Seite“: die fünf Songs dort sind noch ein ganzes Stück orchestraler, klingen an mancher Stelle gar nach Pink Floyd. Aber sie vermeiden den Knall, den großen Aufriss, spielen mehr mit Gitarrensounds, Atmosphäre und Instrumentalparts. Es ist ein Weg, den Hauer gehen könnte, ja gehen sollte. Zumindest wenn er irgendwann nicht mehr in einem Atemzug mit Philipp Poisel und Tim Bendzko genannt werden will.

Am 14. November spielt Tiemo Hauer im LKA in Stuttgart zum Abschluss seiner Livetour. Das Album Camille samt Bonus-CD "Dunkle Seite" ist bei Green Elephant Records erschienen.