Mit seinem neuen Buch versucht Winfried Kretschmann, ein verunsichertes Bürgertum widerständig zu machen gegen die Versuchungen des Populismus. Sein Rezept: ein aufgeklärter Konservatismus. Aber der Grünen-Politiker hat noch andere Absichten.

Stuttgart - Als die CDU vor knapp zwei Jahrzehnten im Parteispendensumpf unterzugehen drohte, veröffentlichte ein damals unbekannter Grünen-Politiker aus Baden-Württemberg in der Zeitung „Welt“ einen markanten Gastbeitrag. Dieser trug den Titel: „Warum die Republik die CDU braucht.“ Winfried Kretschmann, so der Name des Verfassers, bezeichnete die krisengeschüttelte Partei als absolut notwendig für die „Architektur der Republik“. Begründung: Ohne die CDU bliebe eine Lücke in der bürgerlichen Mitte, die leicht von rechtspopulistischen Demagogen aufgefüllt werden könne.

 

Kretschmanns Sorge erwies sich zunächst als unbegründet. Bald schon eroberte Angela Merkel mit sicherem Machtinstinkt die politische Mitte für die CDU zurück. Sie tat dies, indem sie alle irgendwie mehrheitsfähig erscheinenden Positionen unabhängig von ihrer Herkunft inkorporierte und sodann als eigene ausgab.

Konservative Revolution oder Politkitsch

Darüber verlor die CDU sich selbst. Die List der Geschichte will es, dass jetzt, da das Ende von Merkels Kanzlerschaft naht, Kretschmanns bange Zeilen wieder aktuell werden. Eine inhaltlich entkernte und sich selbst fremd gewordene CDU sieht, wie jene Lücke, die sie ließ, von Rechtspopulisten gefüllt wird. Was also tun? Die CDU ist sich uneins. Tief im Westen der Republik besteht ein Christdemokrat wie der Düsseldorfer Ministerpräsident Armin Laschet darauf, dass seine Partei im Kern gar nicht konservativ sei. Im Südosten ruft der CSU-Politiker Alexander Dobrindt, ein Gefolgsmann des politischen Selbstmordattentäters Horst Seehofer, eine „konservative Revolution“ aus. Dobrindts geschichtsvergessenes Manifest kommentierte Kretschmann lakonisch: Papiere von „irgendwelchen Möchtegern-Konservativen in der Union“ seien fast immer „Politkitsch“.

Wenn er so etwas lese, denke er: „Ihr solltet mal mich ein paar Punkte notieren lasse, dann würdet ihr euch nicht so blamieren.“ Dass hat er jetzt getan: ein paar Punkte notiert. „Für eine neue Idee des Konservativismus“ lautet der Untertitel des in diesen Tagen bei S. Fischer erscheinenden Büchleins „Worauf wir uns verlassen wollen“. Der Gedanke liegt nicht fern, dass Kretschmann gewillt ist, aus der potenziellen Konkursmasse der CDU einen dicken Batzen herauszulösen. Motto: „Konservativ bin ich auch.“ Und zwar in der richtigen Weise, nicht wie die Dobrindts dieser Republik: „In seichten oder manchmal auch schrillen Beschwörungen von Heimat, Christentum oder deutscher Leitkultur wird ein entkernter Konservativismus präsentiert, der nur noch als Kulisse dient, aber seine Substanz eingebüßt hat.“

Auerhahn? Autobahn!

Kretschmanns Konservatismus ist nicht naiv, er weiß um die gebrochene Geschichte dieser in Reaktion auf die Französische Revolution entstandenen Grundströmung der Neuzeit. „Der preußisch-reaktionäre Altkonservatismus und der gegen die Weimarer Republik gerichtete revolutionäre Jungkonservatismus waren tief verstrick in die illiberalen und antidemokratischen Traditionslinien der jüngeren deutschen Geschichte.“ Erst die Union habe das Konservative in der Demokratie verankert. Allerdings in Form eines techniknaiven Fortschrittskonservatismus, wie ihn einst Franz Josef Strauß propagierte. Kretschmann zitiert die „Biermösl Blosn“ mit ihrer Parodie auf das weiß-blaue CSU-Bayern: „Griaß di Gott, Autobahn! Pfüat die Gott, Auerhahn!“

Worin aber besteht nun Kretschmanns „neuer Konservatismus“? Wenn er schreibt, im Laufe seines Lebens sei sein „Respekt vor dem, was die zivilisierte Menschheit schon immer für richtig gehalten hat, stetig gewachsen“, dann scheint dort ein Alterskonservatismus auf, wie ihn Theodor Fontane in seinem „Stechlin“ zum Ausdruck brachte: „Lieber mit dem Alten, soweit es irgend geht, und mit dem Neuen nur, soweit es muss“, sagt Pastor Lorenzen.

In Wahrheit könnte Kretschmann seinen „neuen Konservatismus“ jedoch genauso gut als „neuen Liberalismus“ etikettieren. Etwa wenn er schreibt: „Forderungen nach einer Leitkultur jenseits unsrer gemeinsamen Verfassung und Sprache sind deshalb höchst bedenklich.“ Der Begriff Konservatismus ist nur das Flaggschiff einer Flotte von aufgeklärten Gedanken zur Gesellschaftspolitik. Im Kern geht es ihm darum, ein verunsichertes Bürgertum, das sich der Integrität des demokratischen Staatswesen nicht mehr gänzlich sicher ist, widerständig zu machen gegen die autoritären und populistischen Versuchungen der Zeit. Das lateinische Wort „conservare“ bedeutet: bewahren. Insofern ist Kretschmann tatsächlich konservativ. Es gilt, Demokratie zu bewahren, Rechtsstaatlichkeit, Toleranz und Anstand.

Dazu kommt der machtpolitische Aspekt: Die Ausweitung der grünen Diskurshoheit auf konservative Gefilde. Darin macht es eine intellektuell verarmten CDU dem Grünen aber auch leicht.