Farbig gepinselt, aber ohne Deckkraft: Die britische Band Coldplay legt ihr neues Album A „Head full of Dreams“ vor. Leider zeigt die Formkurve weiter abwärts.

Stuttgart - Wer als Schriftsteller mit – sagen wir – dem Buch „Die Bibel“ debütiert, hat ein Problem. Die Richtung für den weiteren Verlauf der Karriere ist jedenfalls programmiert. Ungefähr so verhält es sich mit Coldplay. 2000 war’s, als vier Studenten vom Londoner University Collage mit dem wahrscheinlich besten Erstlingswerk der jüngeren Popgeschichte die Musikszene betraten.

 

„Parachutes“ war ein Album ohne jedes Kalkül: zwar mit Finesse arrangiert, aber dennoch aus reinster, noch unverdorbener Seele kommend. Gitarren, Piano, ein Hauch Elektronik – alles perfekt platziert. Dazu ein unprätentiöses Faible für Schönheit und Emotion, ein dezenter Schuss Rock und mit Chris Martin ein Sänger im Stadium frühreifer Perfektion, nicht wissend, wie gut er mit gerade mal 23 Jahren schon war: So klingt Pop in Bestform.

Zwei Jahre später dann die fast noch bewundernswertere Leistung: „Die Bibel, Teil 2“! „A Rush of Blood to the Head“ toppte das Niveau von „Parachutes“ gar noch ein wenig, glänzte mit bestechender melodischer Pracht und jenen kleinen Raffinessen, die große Musik ausmachen. Aus einem Song ohne Refrain einen Tophit zu machen („Clocks“): Dafür braucht es schon das große Einmaleins der Popmusik – und ein Pianothema wie von Chopin. Erstmals seit U2 war es damit wieder einer Band gelungen, Britpop zur Massenware zu machen, die (für Gruppen aus dem Vereinigten Königreich keine Selbstverständlichkeit) auch in den USA reüssierte. Und nicht nur dort: Der Coldplay-Stil funktioniert seither schlicht in allen Winkeln der Erde und machte die Briten zur neuen Konsensband der Szene, auf die sich mehrere Generationen ebenso so einigen konnten wie Anhänger aus völlig unterschiedlichen musikalischen Lagern – selbst US-Hip-Hopper wie Kanye West oder Jay-Z sind erklärte Fans. Die weitere Internationalisierung ihres Status trieb die Band dann über Kooperationen mit amerikanischen Stars und Sternchen wie Rihanna oder (auf dem neuen Album) Beyoncé voran: künstlerisch zwar kaum von Bedeutung, aber allemal gut für einige Sendesekunden in den üblichen televisionären Showbiz-Formaten oder ein paar Millionen zusätzliche Internetclicks.

Hallräume im XXL-Format

Außerdem zeigten die Briten von allen Popbands den wohl konsequentesten Mut zur Hymne. Hallräume im XXL-Format, befüllt mit großen Trommelbeats, mitsingtauglichen „ho-ho-ho“-Chören und jubilierenden Synthie-/Gitarrenschleifen: Im Idealfall sind Coldplay-Songs funkelnde Soundkathedralen von erhabener Opulenz, koloriert im universell gültigen Signalfarben-Schema RGB – ein Gestaltungsprinzip, das mit modernem Digitalpop (so basierte „Talk“ aus dem 2005er-Album „X&Y“ auf einem Thema der Düsseldorfer Elektro-Pioniere Kraftwerk) ebenso harmoniert wie mit Elementen aus der Klassik: „Viva la vida“ zauberte 2008 mit einem kammermusikalischen Streicherquartett der ganzen Welt ein Leuchten ins Gesicht. Dazu kommt der fröhliche Melancholiker Chris Martin als Schwiegermütter-Traum sowie eine Band, die nach dem „Vier Freunde müsst ihr sein“-Prinzip funktioniert und sich für Organisationen wie Oxfam oder Amnesty International engagiert – und Coldplay wurde endgültig zum Golden Retriever der aktuellen Musikszene.

Nun also, kaum 18 Monate nach ihrem 2014-Album „Ghost Stories“, gibt’s mit „A Head full of Dreams“ schon ein neues Werk. Und während der Verstand noch analysiert, rät der Instinkt bereits zu Misstrauen und zieht Parallelen zum Fußball. Wenn da eine Mannschaft ordentlich vermöbelt wurde, betonen alle Beteiligten ja gerne unisono, wie sehr man sich schon auf das kommende Wochenende freue, weil das nächste Spiel ja die willkommene Chance biete, die Scharte wieder auszuwetzen. Kommerziell betrachtet war „Ghost Stories“ nämlich für Coldplay-Verhältnisse ein mittlerer Flop und verkaufte mit rund fünf Millionen Exemplaren lediglich rund ein Viertel von Bestsellern wie „Viva la vida“ oder „X&Y“. Und musikalisch blieb die Band mit einem eigenartigen Mischmasch aus plakativem Euro-Dancepop, fahlem R&B und dünnen Balladen erstmals in ihrer Karriere deutlich unter ihren Möglichkeiten.

Der beste Titel: „Hymn for the Weekend“

Leider zeigt die Formkurve auch mit dem neuen Album weiter abwärts. Hat eine klangfarbenaffine Band wie Coldplay ihre Tonerkartuschen einmal leergeballert, fehlt ihrem Sound einfach die nötige Deckkraft, und matte Belanglosigkeit stellt sich ein. Dabei entpuppen sich ausgerechnet die bisherigen Stärken – intensive Slow Songs und flotte gute-Laune-Tracks – als Schwachpunkte. Wer frühe Balladen-Juwelen wie „Spies“ oder „Yellow“ im Ohr hat, kann bei „Everglow“ oder „Amazing Day“ jedenfalls nur mit den Schultern zucken: zwei recht fade Schleicher, die 4:31 beziehungsweise 4:42 Minuten lang vor sich hin schunkeln und feierlich tun, ohne es zu sein. Am anderen Ende der Tempo-Skala steht mit „Adventure of a Lifetime“ ein eigentlich apartes Stück Discopop, das aber um ein fürchterlich bemüht klingendes Gitarrenriff rotieren muss. Und der Titelsong „A Head full of Dreams“ will schmissigen Party-Pop mit andachtsvoller Melancholie verbinden, steht sich dabei aber mit einem schalen sing-a-long-Chorus selbst im Weg. Der beste Titel: „Hymn for the Weekend“, das stolpernde R&B-Rhythmik mit Coldplay’schem Pop-Piano kombiniert, während Martins Gesang clever die Skala zwischen Sprechgesang und Falsett auslotet.

Dieses Album sei „ein bisschen wie der letzte ,Harry Potter’-Band‘“, meint Chris Martin über „A Head full of Dreams“. „Das heißt nicht, dass es nicht vielleicht irgendwann noch ein weiteres Album geben wird. Doch es ist die Vollendung von etwas.“ Und er schickt hinterher: „Ich muss es mir als das letzte Ding vorstellen, das wir machen, sonst würden wir nicht alles geben.“

Feuer, Leidenschaft, Lust

Genau darin liegt wohl die Krux. Als Coldplay anfing, war alles einfach ganz von selbst da: das Feuer, die Leidenschaft, die Lust. Heute muss die Band den Weg der zwanghaften Selbstmotivation beschreiten, um noch halbwegs passable Ergebnisse zu erzielen – ein Krisensymptom, ein sicheres Zeichen dafür, dass man sich Zukunftsfragen stellen oder eine Pause machen sollte. Ob Coldplay eine Auszeit auf unbestimmte Zeit nehmen oder den Betrieb wirklich ganz einstellen werden – diese Entscheidung sollte also gut durchdacht sein. Ihr Platz im Pop-Olymp ist den Briten dank zweier Discs für die Ewigkeit sicher; zwei, drei weitere feine Produktionen hat man zusätzlich auf dem Konto.

Und sicher: Auch von „A Head full of Dreams“ werden wieder ein paar Millionen Stück über den Ladentisch wandern – als nette Popplatte funktioniert das Album einigermaßen leidlich. Nur: Diverse leidlich gute Popbands, die leidlich gute Popplatten produzieren, gibt es zuhauf. In dieser Rolle wäre die größte Popgruppe der letzten Dekade jedenfalls eine kolossale Fehlbesetzung. Wer mal Meisterwerke geschrieben hat, sollte sich gut überlegen, ob er sein Publikum ernsthaft mit bedeutungslosem Mittelmaß langweilen möchte.