700 Jahre lang war Lübeck Freie Stadt. Bisher blieben die Zeugnisse dieser großen Tradition eher verborgen. Nun soll im Museumsquartier St. Annen alles besser werden.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Lübeck - Was für ein hochdramatisches Theater! Die gesamte Leidensgeschichte Christi plus Auferstehung plus Himmelfahrt auf einem Tableau! Der Niederländer Hans Memling hat dieses Werk 1491 geschaffen, es zählt zum Kernschatz abendländischer Kunstgeschichte.

 

Eine wunderbare Komposition: aus der Distanz sieht man ein großes, dramatisch zugespitztes Ganzes; die drei Kreuze mit dem Heiland in der Mitte, zu Füßen die verzweifelten Frauen, ringsherum Soldaten und Passanten in einer Szenerie aus Stadt und Land. Erst, wenn man näher heran tritt, gliedert sich das Ganze auf in einzelne, für sich aber wiederum perfekt komponierte Einzelszenen; auf dem linken Flügel absteigend vom Gebet in Gethsemane bis hin zum Zug gen Golgatha, auf dem rechten Flügel aufsteigend von der Grablegung bis eben hin zur Himmelfahrt. Und bei aller technischen Meisterschaft, die hier am Werk war, drängt sich die Meisterschaft doch nirgends in den Vordergrund. Alles ist ausgerichtet auf die Botschaft, die Andacht.

Ohne Mühen kann man sich dieses Meisterwerk vorstellen in den großen Sammlungen von Amsterdam oder Berlin. Auch in den Sälen des Louvre oder im Prado wären ihm zahlreiche Besucher gewiss. Aber tatsächlich erzählt Hans Memling sein großes Passionsdrama im St. Annen Museum zu Lübeck. Und da ging es bisher wenige Gehminuten vom Zentrum der Altstadt entfernt eher beschaulich zu.

Die Tagestouristen wollen nur durch die Altstadt bummeln

Das soll nun anders werden. Drei Millionen Euro hat die Stadt gemeinsam mit einer Reihe spendabler Partner, vor allem engagierter Bürgerstiftungen, investiert, um ihre Kunstschätze prominenter präsentieren zu können, um aus dem St. Annen Museum ein veritables Museumsquartier zu machen. Der Gedanke, der allem zugrunde liegt: es reicht nicht, von der Unesco irgendwann einmal den Titel Weltkulturerbe verliehen zu bekommen. Man muss diesen großen Anspruch auch beständig neu mit Leben füllen.

Dabei klingen die nackten Zahlen beeindruckend: 15 Millionen Tagestouristen besuchen alljährlich die Hansestadt Lübeck, so rechnet das Stadtmarketing; eine Million Touristen buchen mindestens eine Übernachtung. Selbst, wenn man in Rechnung stellt, dass Travemünde mit seinem Strand zum Stadtgebiet zählt, hängt diese enorme Entwicklung, das macht der Jahresvergleich deutlich, ganz eng mit der Verleihung des Welterbetitels für die Lübecker Altstadt im Jahr 1987 zusammen. Die Unesco, die Weltkulturorganisation der Vereinten Nationen, stellte damals den Kern einer viele Jahrhunderte lang mächtigen Hansestadt und Handelsmetropole unter ihren besonderen Schutz. Diesem weltkulturpolitischen Urteil vertrauen Besucher offenbar von nah und fern.

Und wirklich: dieser Altstadtkern auf einer rund zwei Kilometer langen und ein Kilometer breiten Insel im Fluss Trave fasziniert bis zum heutigen Tag. Trotz schwerster Bombenschäden im Zweiten Weltkrieg hat sich die Würde und Geschlossenheit des mittelalterlich grundierten Zentrums an vielen Stellen erhalten. Die mächtigen Türme der Backsteinkirchen, das großzügig geschnittene Rathaus, die Pracht der Kaufmannskontore und Bürgerhäuser, die schmalen Handwerkerstraßen mit so seltsamen Namen wie Kleine oder Große Gröpelgrube – die ganze Altstadt ist eigentlich ein komplettes Museum, durch dessen Straßen spazierend man mühelos einen Tag verbringen kann.

700 Jahre war Lübeck eine Freie Stadt

„Auf lange Sicht reicht es nicht, die Stadt an sich auszustellen“, sagt allerdings Hans Wißkirchen, der Leitende Direktor der Lübecker Museen. „Wir müssen ihr Inneres zum Sprechen bringen, ihre Tradition, ihr Erbe. Das ist nur mit neuen Museumskonzepten möglich.“ Just dies ist der Ansatz für das Museumsquartier St. Annen, zu dem eben nicht nur das neu und großzügig gestaltete St. Annen Museum und die Kunsthalle zählen, sondern welches das gesamte umliegende Aegidienviertel einbezieht, ein traditionelles Kleine-Leute-Viertel mit schmalen Wohnhäusern, langen Hofgängen und einer prachtvollen, von den Weltkriegsbomben verschonten gotischen Kirche mittendrin. „Fassaden allein bleiben im Zweifel doch nur schöne Oberfläche“, so Wißkirchen. „Wir wollen dazu Geschichten erzählen und Begegnungen schaffen.“

Dass die schönen alten Klostersäle von St. Annen einen so reichen Schatz sakraler Kunst bieten – Hans Memlings eingangs beschriebenen Altar ist ja nur die Spitze eines überaus reichen Angebots –, zeugt von Reichtum und Macht der über 700 Jahre lang frei sich selbst regierenden Stadt, in der Kaufmannschaft und Handwerker Austausch pflegten mit der gesamten damals erreichbaren Handelswelt; einen ökonomischen Austausch, dem der geistige Austausch stets auf den Fersen folgte. Die ebenso selbstbewusste wie eigensinnige Stadtkultur, die sich so entwickeln konnte, reichte bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein und konnte 1937 erst von den Nazis gebrochen werden, welche die Stadt dem Land Preußen zuschlugen.

Im Obergeschoss des St. Annen Museums wird diese Bürgerkultur nun wieder lebendig, in 25 sorgfältig inszenierten Räumen, die so appetitanregende Überschriften tragen wie „Die Säulen der Gesellschaft“, „Hier spielt die Musik“, „Der große Unternehmer“ und „Gegen den englischen Einfluss“. Die Ausstellung versammelt kunst- und kulturgeschichtliche Schätze von einer Dichte, die andernorts eines Landesmuseums würdig wären. Und das Besondere ist, dass sich die gesamte Sammlung aus Stiftungen der Lübecker Bürgerschaft speist. Hier ist nichts aus fremden Gegenden irgendwie zusammengeklaubt, hier dokumentiert sich das kulturelle Gedächtnis der Stadtbürgerschaft.

Architekten und andere Kreative leben im Stadtkern

Wie überhaupt die städtische Kulturlandschaft bis heute stark vom bürgerlichen Engagement lebt. Vom Land Schleswig-Holstein und der fernen Landeshauptstadt Kiel (selbst die Bahnverbindung ist miserabel) hat Lübeck nicht viel zu erwarten. Ob Buddenbrockhaus oder Holstentor, die Gemäldegalerie im herrschaftlichen Behnhaus oder das ganz neue, gerade im Bau befindliche Hansemuseum – die für eine Stadt von 240 000 Einwohnern überaus reiche Museenlandschaft lebt von den Investitionen wohlhabender Bürger und Unternehmen. Das ist Reichtum und Bürde zugleich. Denn nach manch schlagzeilenträchtigen Investitionen und glanzvollen Eröffnungen folgt die Last des Alltags mit seinen Betriebskosten aus Personalgehältern und Stromrechnungen. Und die fällt dann ganz auf den kommunalen Haushalt zurück.

Noch ist es nach den Eröffnungsfeiern vom Januar winterlich ruhig im Museumsquartier. „Aber natürlich ist das Viertel durch die Kulturpolitik enorm aufgewertet“, berichtet Thomas Baltrock, der evangelische Pfarrer der benachbarten Kirche. „Die Leute besichtigen St. Aegidien jetzt als historische Heimat der kleinen Leute. Dabei sind die kleinen Leute fast alle weggezogen. Ihre Häuser sind renoviert, die Mieten gestiegen. Darin wohnen jetzt Architekten und andere Kreative, die sich das leisten können.“

So geht die Stadtgeschichte weiter. Selbst Memlings Greveraden-Altar stand ja schon mal auf dem Spiel. 1948 schienen die nötigen Geldsummen für den Wiederaufbau der Kirchen derart astronomisch hoch, dass die Verantwortlichen den Verkauf ihres Kunstschatzes erwogen. Ein Amerikaner, so hieß es, bot sechs Millionen Dollar und die Finanzierung einer Kopie. Zum Glück kam es anders. Der Altar erstrahlt im neu gestalteten St. Annen Museum für jedermann in ganzer Pracht. Und im Original.