Ein neues Internetportal will Patienten vor einer Operation helfen. Doch die medizinische Ferndiagnose ist umstritten und nicht billig.  

Stuttgart - Mit kräftiger Unterstützung von ,,Spiegel" und anderen Medien hat ein Internetportal das Licht der Welt erblickt, das Patienten, die vor einer Operation stehen, die Entscheidung darüber erleichtern soll, ob der empfohlene Eingriff überhaupt notwendig ist. Angestoßen von dem prominenten Heidelberger Spezialisten Hans Pässler haben sich unter seinem Namen eine Reihe von lang gedienten Ärzten versammelt, um im Internet Rat zu geben: nicht kostenlos, denn 200 bis maximal 600 Euro Gebühr sind kein Klacks, aber, wie die Portalgründer versichern, gründlich bedacht und auf den jeweiligen Patienten zugeschnitten. Titel des Portals: Vorsicht Operation.

 

Dieses Angebot kommt nicht zufällig. Denn angesichts der steigenden Gesundheitskosten wächst der Druck, mit den knappen Geldmitteln sparsamer und effektiver umzugehen. Dabei hat sich in den vergangenen Jahren eine Denkschule durchgesetzt, die als Voraussetzung für eine Therapie einen wissenschaftlichen sauberen Nachweis ihrer Notwendigkeit fordert. Der Patient soll sich darauf verlassen können, dass er nicht mit unnötigen, überteuerten Medikamenten und Therapien belastet wird. Wissenschaftler vom Cochrane-Zentrum an der Universität Freiburg vertreten schon lange die Meinung, dass ohne eine Überprüfung des Mitteleinsatzes auf die Dauer das deutsche Gesundheitssystem sicherlich in Schieflage gerät.

Unabhängige Meinung

In dieser Situation scheint der Vorstoß des 71-jährigen Mediziners aus Heidelberg zur rechten Zeit zu kommen. Er und seine im Schnitt altersgleichen Mitstreiter glauben, dass sie genug Erfahrung und inzwischen ausreichend Abstand zum Medizinbetrieb gewonnen haben, um sich eine unabhängige Meinung erlauben zu können und damit dem Patienten zu helfen, eine vernünftige Entscheidung zu treffen. Seit der Gründung des Online-Portals hat Pässler wiederholt seinen Standpunkt öffentlich erklärt, dass erstens zu viel in Deutschland operiert werde und dass es an soliden Zugangsmöglichkeiten zu Zweitmeinungen für Patienten fehle. Pässler nennt Erfahrungswerte bis zu fünfzig Prozent überflüssiger Eingriffe in seinem Gebiet.

Von Fachärzten wird vor allem bestritten, dass es Pässler und seinen zehn in der Regel nicht mehr medizinisch aktiven Mitstreitern gelingen könnte, praktisch per Ferndiagnose fundierte Urteile abzugeben. Angefordert werden vom ratsuchenden und zahlungsfähigen Patienten vorliegende Unterlagen wie Diagnosen, Untersuchungsergebnisse und Röntgenbilder. Pflicht ist die Beantwortung eines genauen Fragebogens mit etwa 100 Fragen über Befindlichkeiten und Schmerzpunkte.

Vorgehen ist "hochgradig unseriös"

Der Berufsverband niedergelassener Chirurgen hält das Vorgehen für "hochgradig" unseriös; "irgendwelche Aussagen aufgrund von online übermittelten Daten sind unsinnig", hat etwa Verbandspräsident Dieter Haack mitteilen lassen, ein in der Region Stuttgart niedergelassener Chirurg. Grundsätzlich nicht bestritten wird, dass es wichtig sei, den Zugang zu und die Qualität von Zweitmeinungen zu verbessern.

Bisher erreichen Patienten ihr verbrieftes Recht auf Zweitmeinung nicht ohne Hindernisse. Der Anruf im Sekretariat eines Chefarztes, dessen Namen auf einer der vielen Bestenlisten erwähnt wird, wird kaum zum Erfolg führen. Einige Kassen haben diese Lücke erkannt, so können Versicherte der AOK Baden-Württemberg seit dem Sommer 2009, "bei bestimmten schwerwiegenden Erkrankungen die fachliche Zweitmeinung eines medizinischen Experten strukturiert" einholen. Der größte Unterstützungsbedarf bestehe in den Bereichen Onkologie und Orthopädie, meint der AOK-Vorstandsvorsitzende Rolf Hoberg. Pionier Pässler weist auf erste positive Reaktionen von einzelnen Kassen wie der Privatkasse Debeka hin.

Anstoß zum Nachdenken

Unter Kollegen wird anerkannt, dass Pässler einen wichtigen Anstoß zum Nachdenken gegeben hat. Auch fachlich gilt der Spezialist für Kreuzbandoperationen als Neuerer, der schonenden Methoden in Deutschland nach Expertenmeinung zum Durchbruch verholfen hat. Kritisiert wird die Art und Weise, wie er seine Grundidee umsetzt. Inzwischen ist ein ursprünglich als Gutachter vorgesehener, noch als Klinikchef aktiver Facharzt nach interner Kritik abgesprungen. Außerdem drohen die ersten Klagen wegen der Gebührenforderungen. Kniespezialist Pässler, der im Gespräch einräumt, in seinen Sturm- und Drangjahren selbst zu viel operiert zu haben, aber im Laufe vieler Berufsjahre dazugelernt habe und diese Erfahrung weitergeben möchte, zeigt sich von Kritik unbeeindruckt: Er will das von Sponsoren finanzierte Portal weiter ausbauen und auf neue Fachgebiete ausdehnen. Ausdrücklich merkt er an, dass das Portal weder von Medizinern noch von Pharmafirmen finanziell gefördert werde.

Verbandspräsident und Handspezialist Haack stellt Pässlers Verdienste keineswegs in Abrede, vermisst aber den für ihn ganz entscheidenden Kontakt zwischen Patienten und Arzt, der für eine abgewogene Entscheidung unabdingbar sei. Nach fast 40 Jahren Erfahrung als Klinikarzt und als niedergelassener Arzt in einer Gemeinschaftspraxis will er die persönliche Begegnung nicht mehr missen. Gerade in der modernen, studiengestützten Medizin sei der Wert des ,, Bauchgefühls" nicht zu unterschätzen. Für eine gute Zweitmeinung brauche man auch als Kassenpatient nicht unbedingt ein neues Online-Portal, sondern im Zweifellsfall eine Überweisung oder eine 10-Euro-Praxisgebühr für den Weg zum nächsten Kollegen.

Das Recht des Patienten

Recht Zweitmeinungen sind kein Luxus, sondern ein grundsätzliches Recht für Patienten in schwierigen Krankheitsphasen. Dazu gehört auch der Anspruch auf Krankenakten. Verschiedene Adressen helfen dem Patienten bei der

Suche: Das Internetportal "Vorsicht Operation" mit dem Schwerpunkt Orthopädie.

Hilfe Auch die Kassen bieten Hilfe: AOK-Internetportal mit Schwerpunkten Onkologie, Orthopädie und Urologie: www.aok.de Stichwort Zweitmeinung. Zweitmeinungstelef. der Techniker Krankenkasse: 040/ 8550606008. Bei Krebserkrankungen Krebsinformationsdienst in Heidelberg: 0800/4203040.