Die irische Band U2 legt ihr neues Album „Songs of Experience“ vor. Aber so richtig wissen die Stadionrocker nicht, wo die musikalische Reise sie hinführen soll.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Ist ein wenig Häme gestattet? Aber sicher doch! Der sich allseits gern als Gutmensch gerierende Sänger Bono, dessen Band U2 seit langem ihren Firmensitz zur Steuervermeidung von Irland in die Niederlande verlegt hat, steht derzeit abermals in der Kritik, weil er der Allgemeinheit Schaden zugefügt haben soll. Über Firmen in Malta und Guernsey soll er in ein Einkaufszentrum in Litauen investiert haben, wie aus den „Paradise Papers“ hervorgeht, den Dokumenten aus Steueroasen. Seit zehn Jahren zahlt dieses Unternehmen in Litauen keinen Cent Steuern, obwohl es jährlich Gewinne im sechsstelligen Bereich erwirtschaftet haben soll.

 

Mal vom Umstand abgesehen, dass die Band U2 – auch vermutlich angesichts der schmalen dort zu erzielenden Gewinne – noch nie ein Konzert in Litauen gegeben hat und der ebenfalls berechtigten Frage, warum eine Band überhaupt irgendwo einen Firmensitz haben muss, war das mal wieder ein gefundenes Fressen für alle, die dem Weltverbesserer Bono schon seit langem Doppelmoral und Heuchelei unterstellen. Bono sagte im Gefolge angeblich alle geplanten Interviewtermine im Vorfeld dieser Albumveröffentlichung ab. Und so wird aus einem wirtschaftspolitischen ein kulturell bedeutendes Thema – denn natürlich hätte man gerne etwas von ihm über dieses Werk erfahren.

Viele Fragen an Bono

Zum Beispiel, ob der Albumtitel „Songs of Experience“ als Sequel zum letzten, vor drei Jahre erschienenen Album „Songs of Innocence“ zu sehen ist, bei dem sich U2 ja gehörig mit dem Marketing-Supergau blamiert hatten, das Werk ungefragt allen iTunes-Nutzern in deren Bibliothek zu stellen – selbst jenen, die das gar nicht wollten, woraufhin die ansonsten ganz schön großspurige Band ganz schön kleinlaut einen Rückzieher machen musste.

Und vor allem hätte man Bono gerne zur Frage gehört, wo sie sich denn nun eigentlich verorten wollen: im Stadion oder doch eher im Rock, der dabei dem Alternativegenre nicht abgeneigt ist. Deutlicher als zuvor bedient sich das irische Quartett auf seinem neuen Album nämlich bei den Ingredienzen des Indie-Genres, unüberhörbar ist das Bestreben, Kanten, Disharmonien und Brüche in den Harmoniefluss der Songs einzuweben. Unüberhörbar ist jedoch auch der Eindruck, dass hier die diesbezüglichen Branchengrößen kopiert werden sollen, ohne ein richtiges Ziel oder ein Konzept vor Augen zu haben. In dem Stück „American Soul“ etwa sprenkelt plötzlich ein verzerrtes Keyboard in die Melodie, eine doch reichlich ungewohnte Zutat bei U2. Als Mitstreiter für dieses Stück haben sie den Hip-Hop-Musiker Kendrick Lamar gewonnen, im Refrain shoutet Bono jedoch „You are Rock’n’Roll“ – ja was denn nun?

Und was etwa passiert in „Summer of Love“? Dieses Lied ist eine formatradiotaugliche Feel-Good-Nummer, die wie alle Songs des Albums unter anderem von Ryan Tedder von der sehr artigen Band One Republic und Andy Barlow von der Trip-Hop-Combo Lamb produziert wurde und bei der Lady Gaga in einer Gastrolle zu hören ist. Das ist alles mögliche, aber Rock’n’Roll geht anders.

Seit vierzig Jahren im Geschäft

Die Band spricht auf „Songs of Experience“ natürlich aus Erfahrung, es ist das mittlerweile vierzehnte Studioalbum in der über vierzigjährigen Bandgeschichte. Sie spricht aus der Erfahrung, unzählige Superhits vorgelegt zu haben. Aus der Erfahrung, inhaltlich sehr konsistent um ein Thema kreisende Alben wie „War“ vorgelegt zu haben. Und aus der Erfahrung, mit ambitionierten Produzenten unerwartete Wege einschlagen zu können, etwa mit Brian Eno auf „Achtung, Baby“. Auf dem aktuellen Album fehlt aber all dies. Es gibt typisch nach U2 klingende Lieder wie „The little Things that give you away“, es gibt aber auch säuberlich mit Autotune glatt gebügelte Songs wie den Eröffnungstrack „Love is all we have left“. Es gibt natürlich den Anspruch, weiterhin als politische Band geführt zu werden – angesichts der Weltläufte kam es beim Entstehungsprozess mehrfach zu Nachdenkpausen – , aber auch viel Liebesgesäusel. Und es gibt Stücke wie „The Blackout“, das mit seiner E-Bass- geführten Melodie wie The Gossip klingen will, im rummelplatztauglichen Refrain aber breite Keyboardflächen hingelegt bekommt, die den reduzierten Eindruck umgehend zerstören. Der Titel des vorletzten Songs steht vielleicht für das ganze Album. „Love is bigger than anything in its Way“ heißt er wachsweich, irgendwie ist die Liebe wohl größer als alles andere, aber irgendwie bleibt alles auf diesem Album genau auf diese Art im Ungefähren.

Damit keine Missverständnisse auftreten: U2 legen dreizehn erwartungsgemäß blitzsauber produzierte und eingespielte Lieder vor, die jedes für sich natürlich hinreichend Format zur Veröffentlichung haben und viele andere Songwriter nach wie vor Neid erblassen lassen dürften. Käufer wird die Band für dieses passend zum Vorweihnachtsgeschäft veröffentlichte Album ohnehin finden, allein schon, weil es diesmal nicht ungefragt verschenkt wird wie der Vorgänger, von dem auch dadurch „gerade einmal“ 650 000 Exemplare abgesetzt wurden. Umgekehrt liegt eben bei dieser Band die Messlatte auch deutlich höher. Und unter dieser Maßgabe muss man sagen: Der ganz große Wurf ist dieses Album, dem überragende Songs gänzlich und eine überzeugende Linie weitgehend fehlen, ganz gewiss nicht.