Ein Unschuldiger wird vorm UN-Gebäude in New York erschossen. Aber war er wirklich ein harmloser Bürger? In „Tag der Abrechnung“ widmet sich Sam Bourne virtuos einem ziemlich unbekannten Aspekt der Holocaust-Geschichte.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Was ist schlimmer? Einem Verbrechen zum Opfer zu fallen? Oder anschließend ansehen zu müssen, dass sich die Justiz mit allenfalls mildem Desinteresse an die Aufklärung macht?

 

Einmal Opfer, immer Opfer. Was in der gewöhnlichen Strafverfolgung immer wieder vorkommt, ist auch bei Jahrhundert-, bei Jahrtausendverbrechen bittere Möglichkeit. Oder sollte man lieber sagen: es ist dort sogar die Regel? Organe wie das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag beschäftigen sich allenfalls mit der Spitze des Eisberges, wenn ein Bürgerkrieg, eine „ethnische Säuberung“ oder ein Genozid zur Verhandlung anstehen. Man kann getrost davon ausgehen, dass in den Heimatländern der Angeklagten ganze Armeen von Komplizen frei herumlaufen – zum Hohn für die Opfer.

Ruanda, Kambodscha, Argentinien sind überall. Und Nazi-Deutschland auch.

Mit alttestamentarischer Härte

Und genau das ist das Thema von Sam Bournes (eigentlich Jonathan Freedlands) Thriller „Tag der Abrechnung“. Es geht um eine kleine Gruppe von Holocaust-Überlebenden, die nach dem Zweiten Weltkrieg ziemlich schnell merkt, dass die Nürnberger Prozesse zwar ein paar wenige Todesurteile gezeitigt haben, die ganz große Masse der Zigtausende Mörder aber ziemlich unbehelligt davonkommt. Mit alttestamentarischer Härte nimmt die Gruppe DIN das Recht in die eigene Hand und schmiedet Pläne, in deutschen Städten das Trinkwasser zu vergiften – eine historische Tatsache, wie Bourne in seinem Nachwort schreibt. Einen etwas weniger weitreichenden Rachefeldzug setzt die DIN dann wirklich um: sie bestreicht Brot für inhaftierte SS-Offiziere mit Arsen.

Diese im öffentlichen Gedächtnis kaum vorhandenen Fakten bilden die Grundlage für Bournes Buch. In „The Final Reckoning“, so der Originaltitel, geht es um einen alten Mann, der als angeblicher Terrorist vor dem UN-Gebäude in New York erschossen wird. Da er vermeintlich völlig harmlos war, sind die Aufregung und die Angst vor einem Skandal groß – erst recht, als sich herausstellt, dass der tote Gershon Matzkin ein Überlebender des Holocausts war.

Weltweit geachteter Politiker im Visier

Im Auftrag der UN soll der Anwalt Tom Byrne Matzkins Tochter Rebecca ruhigstellen. Doch schnell findet er heraus, dass Matzkin zur DIN und damit zu jener Gruppe von Juden gehört hat, die sich nicht mit der lebenslangen Opferrolle begnügen wollten. Und Matzkin war auch keinesfalls als Tourist in New York, sondern er hatte einen hochrangigen, weltweit geachteten Politiker im Visier.

Nun ja, die Liebe . . .

Was Bourne auf 470 Seiten beschreibt, ist zum einem ein sauber durchkonstruierter Thriller (zu dessen stärksten Momenten eine ziemlich gruselige Entführungsszene gehört), zum anderen ein historisch informiertes Kompendium über die Gräuel der Deutschen und ihrer Helfershelfer im Baltikum – und nicht zuletzt mit seinem Bezug auf die DIN ein belletristischer Beitrag zu einem unbekannten Aspekt der Holocaust-Geschichte.

Dass der Autor auch noch ohne großes Zögern eine Liebesgeschichte zwischen Tom und Rebecca einflicht, nun ja, das muss man dann halt in Kauf nehmen. Wie heißt es so schön: Wenn’s der Wahrheitsfindung dienlich ist…

Sam Bourne: Tag der Abrechnung. Roman. Aus dem Englischen von Rainer Schmidt. Scherz-Verlag, Frankfurt a.M. 478 Seiten, 14,95 Euro.