2002 hat die Stadt das ehemalige Cannstatter Güterbahnhofgelände gekauft. Nun beginnen die Bauarbeiten an der „Grünen Mitte“. Bald sollen die ersten Gewerbebauten entstehen.

Stuttgart - Das olympische Dorf in Rio ist kein Augenschmaus, bietet aber in seinen 31 Wohntürmen Platz für rund 18 000 Sportler und Teammitglieder. Die Neubauten haben 17 Stockwerke und finden auf 20 Hektar Fläche Platz. Genauso groß ist das ehemalige Cannstatter Güterbahnhofgelände, das 2002 der damalige OB Wolfgang Schuster für seinen großen Olympiatraum von der Bahn für 41 Millionen Euro gekauft hat. Die Dorfpläne für die Stuttgarter Olympiabewerbung 2012 sahen nur unwesentlich weniger Aktive vor, als in Rio am Start sind. Später hätten in diesen Zweckbauten 5000 bis 6000 Menschen leben sollen – wohl ein Grund mehr, dem Nationalen Olympischen Komitee dafür zu danken, vor zwölf Jahren Leipzig zum nationalen Kandidaten erkoren und die Stuttgarter Träume sehr früh zum Platzen gebracht zu haben.

 

Heute bewertet man bereits die Ansiedlung von 1500 Bewohnern als „verdichteten Planungsansatz“. Aber man will ja auch keine Trabantensiedlung, sondern einen Mix aus Wohnen und Arbeiten. Nicht störendes Gewerbe ist geplant, und verschiedene Bauträger und Baugemeinschaften sollen ein Vorzeigequartier mit geförderten Wohnungen für unterschiedliche Einkommensschichten kreieren. Das Vorhaben gilt als Blaupause für das Rosensteinviertel hinterm Hauptbahnhof – auch dort sollen schließlich Maßstäbe in Nachhaltigkeit und Ökologie gesetzt werden.

Wohlfühloase für tausende Eidechsen

Längst sind die Gewerbebetriebe weggezogen, das Areal wurde weitgehend freigeräumt und der Natur überlassen, so dass es nun das größte zusammenhängende Biotop der Stadt mit einem beeindruckenden Aufkommen an seltenen Tierarten darstellt. Heinrich Sonntag, Abteilungsleiter im Amt für Stadtplanung und Stadterneuerung, verkämpfte sich mehr als ein Jahrzehnt für Wohnungsbau auf dem Areal. „Die Tür war fast immer zu“, erinnern sich Sonntag und die verantwortliche Neckarpark-Planerin Susanne Wehle-Faiss. Zu den Projektgegnern der ersten Stunde zählt der Beamte den Ex-Bezirksvorsteher Hans-Peter Fischer, der wie die CDU-Fraktion „Wohnen südlich des Bahndamms“ für eine Schnapsidee gehalten habe. Dort wolle niemand freiwillig hinziehen. Es stimmt den Stadtplaner sichtlich zufrieden, den längeren Atem gehabt zu haben. Störfeuer waren Vorschläge, produzierendem Gewerbe den Vorzug zu geben oder einen Ikea-Möbelmarkt anzusiedeln. Es gab Klageandrohungen des ehemaligen VfB-Präsidenten Gerd Mäuser sowie diverser Volksfestwirte, deren größte Sorge war, dass Neubürger wegen des Lärms Klage einreichen könnten.

Mehrfach wurden die Pläne geändert, nun sind etwa 450 Wohnungen übrig geblieben. Auch das Sportbad hat nun seinen festen Platz an der Mercedesstraße und soll 2020 eingeweiht werden. In einem weiteren Verfahren neben Gewerbebauten und Wohngebiet wird dann die Verlegung der Benzstraße vorgenommen. Die gewonnene Fläche zwischen Benzstraße und Schleyerhalle wird mit zwei Fußballplätzen bestückt, die von 2018 an bespielt werden sollen. Wo heute noch drei Flüchtlingsunterkünfte stehen, könnte dereinst eine neue und größere Schleyerhalle entstehen. Die Stadtplaner stellen neben dem Bildungs- und dem Gemeinwesenzentrum die ökologischen Vorgaben für das neue Quartier heraus, das aus Gründen des Hochwasserschutzes um einen Meter angehoben wird: die öffentliche Parkanlage „zur Stärkung der Identität des neuen Stadtquartiers“, ausreichende Wegeverbindungen, Spielplätze und bepflanzte Grünflächen sollen eine hohe Aufenthaltsqualität sichern und die bestehenden Defizite in der Nachbarschaft kompensieren helfen. Es gibt zudem zahlreiche Festsetzungen zur Begrünung der Baugrundstücke, Tiefgaragendächer sowie der Gebäudedächer und Fassaden. Es werde ein großes Augenmerk auf die Rückhaltung, Nutzung und Verdunstung des Regenwassers gesetzt. Und auch das Energiekonzept wird als innovativ gepriesen: Der Bedarf könne komplett aus nichtfossilen Quellen gedeckt werden – dank Solarenergie, Fotovoltaik und Wärme aus dem Abwasser des an der Benz- und Mercedesstraße führenden Kanals.

Strom vom Dach, Wärme aus dem Abwasserkanal

Jetzt geht es mit dem ersten von drei Abschnitten los. Anfang Juli hat der Gemeinderat mit dem Satzungsbeschluss für den Bebauungsplan „Reichenbachstraße“ den Startschuss für die Gewerbebauten und Grünanlagen gegeben. im Oktober findet der offizielle Spatenstich statt. Für drei Grundstücke an der Daimlerstraße liegen Baugesuche vor. Auf zweien wird die Münchner Dibag vom Herbst an – aller Voraussicht nach für die Volksbank Stuttgart – bis zu fünfgeschossige Verwaltungsgebäude errichten. Im September falle die Entscheidung, dort 400 Verwaltungsmitarbeiter anzusiedeln, sagt der Vorstandsvorsitzende Rudolf Zeisl. Daneben, an der Ecke von Daimler- und Mercedesstraße, erhält der Investor Baurecht für ein 25 Meter hohes Bürogebäude. Dafür wird in absehbarer Zeit ein Architektenwettbewerb ausgelobt. Der Plan sieht auch die Arrondierung bestehender Quartiere an der Reichenbachstraße sowie Bürogebäude (Bülow) und eine Seniorenanlage vor. Das Rote Kreuz hat eigene Ambitionen aufgegeben.

Die Quartiere im Neckarpark. Klicken Sie auf die Karte für eine größere Ansicht

„Grüne Mitte“ wird bereits gebaut

Auf dem Gelände herrscht bereits Aufbruchstimmung: Man hat damit begonnen, den Asphalt zu entfernen für die Grüne Mitte, den „Central Park“ des neuen Viertels. Eine 700 Meter lange Lärmschutzwand schirmt das Gelände von dem schallisolierten Daimler-Motorenwerk und der Bahnlinie ab, auch der Verkehrslärm auf der Mercedesstraße ist kaum zu vernehmen. Dennoch wird im ersten Abschnitt ein Riegel aus diversen Gewerbeeinheiten gebildet. Diese Gebäude mit teils öffentlicher Nutzung (Läden, Gastronomie) im Erdgeschoss sollen die Bürger von Verkehrs-, Sportanlagen- und Freizeitlärm abschirmen, der von Veranstaltungen auf dem Wasen, in dem Stadion, der Schleyerhalle und der Porsche-Arena herrührt. 2020 soll dann das Baurecht für das weitgehend vom Autoverkehr befreite Wohngebiet zwischen Bahnlinie und Benzstraße vorliegen. Die Stichstraßen zu den Wohnhäusern dürfen nur zur Anlieferung befahren werden, die Fahrzeuge parken unterirdisch, außerdem ist eine Quartier-Tiefgarage vorgesehen. Die oberirdischen Stellplätze bleiben Carsharing-Fahrzeugen vorbehalten, Radfahrer und Fußgänger genießen Vorfahrt.

Bis dahin werden auch rund 5000 Mauereidechsen vergrämt, also in ein trocken-warmes, besonntes Habitat aus Schotterflächen, Gabionenmauern und Gebüschen unterhalb des Bahndamms umgesiedelt sein. Die negativen Auswirkungen der Bebauung sind unbestritten, schließlich geht Lebensraum von Eidechsen, Vogelarten (Mauersegler, Haussperling, Gelbspötter, Sumpfrohrsänger) und Insekten wie Wildbienen und Heuschrecken verloren. Die Stadt sorgt nicht nur am Bahndamm, sondern auch in Obertürkheim und entlang der Gäubahn für Kompensation. Weil es für den Flussregenpfeifer keinen adäquaten Ersatz in der Nähe gibt, hat das Regierungspräsidium genehmigt, die Wernauer Baggerseen zum Ausweichhabitat zu erklären.