Forscher sind besorgt, dass die GPS-Nutzung unser Hirn verändert und wir unsere Orientierungsfähigkeit verlieren. Was ist das genau für eine Fähigkeit? Sind die Sorgen berechtigt?

Mannheim - Wer sich verfährt oder verläuft, muss häufig etwas weiter fahren oder gehen als geplant. Das nervt, hat aber in der Regel keine weiteren Folgen. In einigen Gegenden allerdings kann ein ungeplanter Umweg dramatische Konsequenzen haben: „Death by GPS“ nennen es die Ranger des Nationalparks Death Valley in den USA, wenn Menschen daran sterben, dass ihr Navigationsgerät sie in die Irre geschickt hat – oder wenn sie es nicht richtig zu bedienen wussten. Wer im Death Valley die Orientierung verliert, kann wegen der großen Hitze schnell dehydrieren. Und das scheint im Zeitalter der Navigationsgeräte häufiger vorzukommen: Fahrer folgen blind den Anweisungen des Geräts und bringen sich so in Gefahr.

 

Psychologen und Hirnforscher warnen, dass unser Gehirn Fähigkeiten verlernen kann, wenn sie nicht mehr oder nur selten angewendet werden. Sie sehen unsere Orientierungsfähigkeit in Gefahr. Unser Hirn ist plastisch: Lernt und übt jemand eine neue Fähigkeit, verändert sich dessen Gehirn. Das wurde in vielen Zusammenhängen nachgewiesen, sei es beim Lernen eines Instrumentes oder beim Jonglieren. Auch der berühmte Smartphone-Daumen ist so ein Effekt: „Die Repräsentation des Daumens im Gehirn von Kindern und Jugendlichen ist seit der Einführung des Handys fast doppelt so groß“, sagt der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther. „Wenn man etwas lernt, wird das strukturell im Gehirn verankert.“ Deshalb sei die andere Richtung ebenso plausibel: Wer Fähigkeiten nicht nutzt, verlernt sie wieder – das Hirn baut die Kapazitäten ab.

Taxifahrer haben mehr graue Zellen in bestimmten Hirnbereichen

Das bekannteste Beispiel im Bereich Orientierung ist die Londoner Taxifahrerstudie aus dem Jahr 2008: Hirnforscher des University College London untersuchten die Fahrer im Kernspintomografen. Sie fanden heraus, dass ein bestimmter Hirnbereich besonders aktiv war, wenn die Probanden in einer Simulation durch die Straßen Londons navigierten. Bei den erfahrenen Taxifahrern war diese Region deutlich größer als bei Neulingen. In Folgestudien begleiteten die Forscher angehende Taxifahrer vor und nach der Prüfung zum Taxischein, um die Kausalitäten zu klären: In der Tat nahmen deren graue Zellen in dem Bereich im Vergleich zur Kontrollgruppe mit der Ausbildung zu. Für Hüther ist klar: „Wenn man allen Londoner Taxifahrern Navis gibt, schrumpft die Hirnregion wieder.“ Dafür gibt es jedoch keine Kontrollstudie.

„Es gibt keinen Beleg, aber es erscheint plausibel“, sagt auch der Mannheimer Bildungspsychologe Stefan Münzer. Er erforscht derzeit, wie die Anzeige von Navis gestaltet sein müsste, um die räumliche Orientierung zu trainieren: weniger mit „Jetzt rechts abbiegen“-Pfeilen als vielmehr mit einer Karte, auf der mehr zu sehen ist als die nächsten Kreuzungen.

Probanden beispielsweise zeichneten in Karten auch „globale“ Landmarken ein, die mit dem konkreten Weg nichts zu tun hatten, wie weithin sichtbare Hochhäuser, bedeutsame Gebäude wie ein Schloss oder den Hauptbahnhof. Diese dienen der Orientierung, nicht dem unmittelbaren Abbiegen. „Für die Entwickler von Navigationsgeräten ist noch schwierig zu beurteilen, welche Informationen für die menschliche Orientierung wichtig sind“, sagt Münzer. Nicht zuletzt trainieren bestimmte Computerspiele räumliches Denken: „Wer 3-D-Strukturen in einer 2-D-Ansicht verstehen will, braucht die räumliche Transformation, insbesondere die Perspektiventransformation“, sagt Münzer.

Es starben bereits Menschen, weil andere nicht räumlich dachten

Das räumliche Denken ist aber nicht nur wichtig, um nicht im Death Valley verloren zu gehen. Als im 19. Jahrhundert in London eine Choleraepidemie ausbrach, suchten die Stadtverantwortlichen lange nach der Ursache. Bis jemand auf die Idee kam, die Fälle in einer Karte einzuzeichnen. „Für jemanden, der nicht räumlich denkt, ist das nicht naheliegend“, sagt Münzer. Es führte prompt zur Lösung: Eine Häufung rund um die Wasserpumpen machte klar, wie sich die Krankheit ausbreitet.

Auch in jüngerer Vergangenheit starben Menschen, weil andere nicht räumlich dachten – zumindest wenn man dem amerikanischen Informationsdesigner Edward Tufte glaubt: Vor dem Start der Challenger-Raumfähre, die 1986 explodierte, hatten Ingenieure immer wieder gewarnt. Sie hatten einen Zusammenhang entdeckt zwischen niedrigen Temperaturen und austretendem Treibstoff an bestimmten Dichtungen. Doch ihre Legenden waren zu umständlich, die Nasa-Verantwortlichen verstanden sie nicht. Hätten die Ingenieure einfach die Temperatur auf einer X-Achse, die Gefahr des Austritts auf einer Y-Achse aufgetragen, wäre der Zusammenhang deutlicher gewesen, so Tufte. „Auch das ist eine räumliche Repräsentation“, sagt Münzer.

Diese jedoch leidet vermutlich nicht unter dem Navi-Gebrauch. „Die Literatur zu kognitivem Transfer ist bitter“, sagt Münzer. „Transfer findet nur sehr begrenzt statt.“ Soll heißen: Mit der Nutzung von Navis verlieren wir vermutlich nur jenen Teil der räumlichen Orientierung, den uns die Technik abnimmt: das Bilden einer kognitiven Karte, für die wir die räumliche Rotation brauchen. Wer Grafiken lesen können möchte, sollte das unabhängig davon trainieren.

Haben Männer den besseren Orientierungssinn?

Gene Einige Forscher gehen davon aus, dass die Fähigkeit zur Orientierung in den Genen festgelegt ist. Andere Wissenschaftler nehmen an, dass die Orientierung eine erlernte und eingeübte Fähigkeit ist.

Rotation Der Mannheimer Psychologe Stefan Münzer glaubt nicht daran, dass Orientierung angeboren ist. „Wenn man genau hinschaut, sieht man, dass sich Frauen und Männer nur in einem ganz speziellen Bereich unterscheiden“, sagt er: bei der räumlichen Rotation. Es scheint so, als seien Männer besser darin, sich beispielsweise vorzustellen, wie ein Würfel aussieht, wenn er gedreht wird.

Routenwissen „Das Routenwissen versagt, sobald man eine Abkürzung nimmt oder einen Umweg gehen muss“, sagt Julia Frankenstein, Psychologin an der TU Darmstadt. Denn dafür bräuchte man eine räumliche Repräsentation, welche die räumliche Lage der Landmarken zueinander abbildet: die kognitive Karte. Für diese ist die räumliche Rotation notwendig.