Ein querschnittsgelähmter Jugendlicher könnte das erste Tor der Fußball-WM schießen. Ein internationales Team aus 200 Wissenschaftlern, darunter Forschern der TU München, präsentieren so den Prototyp eines fühlenden Korsetts.

München/São Paolo - Miguel Nicolelis wird beim Eröffnungsspiel der Fußball-WM im Stadion von São Paolo nicht nur seine brasilianischen Fußballstars bejubeln. Wichtiger als Cristiano Ronaldo wird für den brasilianischen Neurowissenschaftler vermutlich ein querschnittsgelähmter Jugendlicher sein, der vor dem Eröffnungsspiel seinen großen Auftritt hat.

 

Wenn alles gut geht, wird am 12. Juni ein von der Hüfte an abwärts gelähmter junger Erwachsener eigenständig auf das Spielfeld laufen und den ersten Ball des Turniers in Richtung Tor schießen. Ein sogenanntes Exoskelett, eine Art Korsett, wird ihn dabei stützen. Dieses Exoskelett kann der Querschnittsgelähmte mit seinen Gedanken steuern. Nicolelis ist einer der führenden Wissenschaftler bei der Entwicklung dieses Exoskeletts, das aus dem Projekt „Walk again“ resultiert. Insgesamt 200 Wissenschaftler weltweit sind daran beteiligt, unter anderem auch ein Team der TU München unter Leitung von Gordon Cheng. Die Idee, das Exoskelett bei der WM vorzuführen, hatten Nicolelis und Cheng gemeinsam – für Nicolelis, einen Fußballfan, lag das auf der Hand. Er lässt kaum ein Spiel aus, wenn er die Chance hat, in seinem Heimatland Brasilien die emotional geladenen Spiele im Stadion zu verfolgen.

Ein legendäres Experiment

Ebenso legendär, wie dieser Auftritt des Querschnittsgelähmten werden könnte, sind die neurowissenschaftlichen Versuche, die am Beginn des Ganzkörper-Korsetts standen: Im Jahr 2008 gelang es Nicolelis und Cheng gemeinsam, die Beine eines Roboters mittels Gedanken zu steuern. Man kann diese Gedanken mit einer sogenannten Elektroenzephalografie (EEG), einer Messung der Hirnströme, aufzeichnen. Diese elektrischen Wellen werden über einen Computer auf die Beine eines Roboters geleitet, die sich so bewegen lassen. Legendär an diesem Durchbruch war, dass die Gedanken von einem Affen stammten, der in einem Labor der Duke-Universität in North Carolina in den USA saß, während die Roboterbeine in einem Forschungslabor in Japan marschierten. Doch unabhängig von dieser räumlichen Distanz war dies der Durchbruch, denn es konnte gezeigt werden, dass die mechanischen Bewegungen eines Roboters mit Hilfe der Hirnströme gesteuert werden können. So wird auch das Exoskelett, in das der gelähmte junge Mann bei seinem WM-Auftritt geschnallt wird, von dessen Gedanken gesteuert. Dies bedeutet jedoch eine Menge Übung, so dass in Brasilien derzeit einige ausgewählte Querschnittsgelähmte mit dem Exoskelett und den Wissenschaftlern üben.

Es reicht jedoch nicht, die Roboterbeine mit den Hirnwellen mechanisch zu bewegen. Das Exoskelett braucht eine Art Rückmeldung, wenn der Ball ins Tor soll. Daher werden beispielsweise Sensoren entwickelt, die der menschlichen Haut ähneln. „Die Haut ist ein sehr empfindliches System. Fünf Millionen Sensoren auf nur zwei Quadratmeter Fläche nehmen Sinneseindrücke wahr“, erklärt Philipp Mittendorfer, der im Team von Gordon Cheng an der TU München arbeitet. Bis jetzt, so berichtet der Elektrotechniker, könne ein Roboter nur den Kontakt mit einer großen Fläche spüren, gewissermaßen erst dann, wenn er schon gegen die Wand laufe. Und es sei ihm nicht möglich, Gegenstände durch Abtasten zu erkennen. Daher entwickle man in München eine Art künstliche Haut mit Sensoren, die hitzeempfindlich seien und Vibrationen schon vor einer Berührung spüren könnten. Diese Eindrücke brauche man zum räumlichen Fühlen, zum Erkennen von Objekten.

Neuartige Sensoren geben dem Träger ein Gefühl für den Boden

Diese Sensoren werden im Exoskelett eingesetzt, und zwar an den Füßen. Sie melden den nahen Kontakt mit dem Boden über Vibrationen, die auf den Arm des Menschen geleitet werden. Somit bekommt der Gelähmte im Exoskelett eine Rückmeldung über seine Bewegungen, die er mit dem Exoskelett macht – er kann mit den Armen spüren, was die Füße machen. Es spürt gewissermaßen, wenn er den Boden berührt, den Fuß bewegt und schließlich den Ball tritt.

Bis jetzt gibt es diese Art von Exoskelett nur als Prototyp. Mittendorfer könnte sich jedoch gut vorstellen, dass es auch in Serie produziert werden könnte. „Vor allem Rehabilitationseinrichtungen haben Interesse an derartigen Systemen“, erklärt der Münchner Ingenieur. Es gibt weitere dieser Exoskelette, allerdings keine, die mit den eigenen Hirnwellen gesteuert werden können. Meist lenkt man die Laufroboter mit einem Steuerungshebel. Oft hilft den Patienten in der Reha eine Pflegekraft und steuert die Schritte mit einer Fernbedienung. In den Reha-Einrichtungen wird untersucht, ob die Geräte einen positiven Effekt auf die Gesundheit haben, etwa auf die Muskeln, die beim aufrechten Gang auch im Oberkörper wieder genutzt werden, ebenso wie auf die inneren Organe, wie etwa die Blase, die beim dauerhaften Sitzen im Rollstuhl falsch zu liegen kommen könnte. Auch Wundstellen könnten vermieden werden. Ebenso könnte das Aufrichten und Laufen das Herz-Kreislaufsystem positiv beeinflussen. Auch das Risiko für Osteoporose könnte gemindert werden.

Doch wie sieht es mit der Hoffnung von Querschnittsgelähmten aus, den Rollstuhl für immer stehen zu lassen?

Dafür sei noch einige Forschungsarbeit notwendig, sagt Mittendorfer. Man müsse Mediziner ins Boot holen, die sämtliche gesundheitlichen Aspekte in wissenschaftlichen Studien erfassen müssten. Man müsse prüfen, ob das Exoskelett alltagstauglich sei. Man stelle sich vor, so der Elektrotechniker, der Gelähmte stehe in seinem Exoskelett an der U-Bahn und dieses fange aus irgendeinem Grund plötzlich an zu spinnen und der Betroffene fällt zu Boden. Das könnte lebensgefährlich werden.

Ursprünglich wurden Exoskelette für die militärische Nutzung entwickelt – und vor allem US-Soldaten umgeschnallt. Sie können damit bis zu 100 Kilogramm für unbegrenzte Zeit schleppen, ohne zu ermüden. Der Körper wird kaum belastet, der Soldat gerät nicht außer Puste. Zudem wird die Mobilität massiv gesteigert, der Marsch im Gelände kann endlos werden. Diese militärische Nutzung wird immer wieder kritisiert.