Deutschland debattiert die digitale Zukunft oft auf technologielastige Weise. Auf der IT-Messe Cebit 2018 prallen Konvention und Innovation aufeinander.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Hannover - „Der Himmel über Hannover klart heute auf – genieß die Sonnenstrahlen“, sagt der Facebook-Wetterbericht am Morgen voraus. Doch der Himmel über der niedersächsischen Landeshauptstadt tut am Morgen sein Bestes, um diese Prognose zu widerlegen. Graues, kühles Juniwetter, fast so wie zum bisherigen Cebit-Termin im März.

 

Das Wetter beschäftigt auch Dieter Kempf. Als er zum Auftakt auf der großen Bühne im Kongresszentrum zu seinen Gefühlen angesichts der 2018 zum „Festival“ umdeklarierten Messe gefragt wird, antwortet der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI): „Meine erste Frage ist: Hält das Wetter?“ Nicht nur wegen des Wetters habe er ein Gefühl der Anspannung. In Deutschland rede man gerne davon, die Dinge radikal zu verändern. „Doch wenn man das tatsächlich tut, merkt man, dass die Knie ein bisschen weich werden.“ Dass die IT-Messe in Hannover Ernst machen will mit mehr Kreativität und Radikalität, zeigt allerdings schon der erste Starredner des Tages. Jaron Lanier wird gerne als Internetpionier und -rebell tituliert. Er ist Künstler, Informatiker, Unternehmer und Autor zugleich. Und der 58-Jährige enttäuscht das Publikum, das den Saal im Kongresszentrum bis auf die Stehplätze bevölkert, nicht. „Zurzeit gewinnt die dunkle Seite der Technologie – und dies ist sehr traurig und beängstigend“, sagt der US-Amerikaner.

Der Starredner sieht die dunkle Seite des Internet

Das Internet, in das er einst so viele Hoffnungen gesetzt habe, sei zur perfekten Manipulationsplattform der Geschichte geworden. „Nie zuvor hat es eine dermaßen konstante Überwachung und derart konstante Manipulation von Information und Erfahrungen gegeben“, kritisiert Lanier die Entwicklung vor allem mit Blick auf das anzeigenbasierte Geschäftsmodell von Facebook und Google. Wenn man von „Anzeigengeschäft“ spreche, sei das eine Verharmlosung: „Es geht um Techniken, um das Verhalten zu verändern.“ Was bisher nur in religiösen Sekten oder bei Verhören galt, werde zum Geschäftsmodell. Kein Wunder, dass Laniers neuestes Buch heißt: „Zehn Gründe, warum du deine Social Media Accounts sofort löschen musst.“

Das Internet-Anzeigenmodell als Freibrief für Manipulation

Schluss ist da mit Worthülsen wie „Herausforderung Digitalisierung“. Lanier geht ans Eingemachte – ohne gleich Technikfeind oder Computerstürmer zu sein. Seine These: Die IT-Konzerne sollten besser direkt über Gebühren mit ihren Dienstleistungen Geld verdienen, statt „von Dritten dafür bezahlt zu werden, dass sie ihre Nutzer manipulieren“. Bei den Internetanbietern fürs Fernsehen funktioniere das schließlich. Als Beispiel führt Lanier den TV-Anbieter Netflix an: „Die Nutzer zahlen – und das Angebot ist besser geworden“, findet er.

Lange Jahre hat man in Hannover in eher steriler Umgebung die neuesten Trends präsentiert. Doch eine IT-Fachmesse funktioniert heute in dieser Form nicht mehr. Auf der Pressekonferenz des Vereins der Deutschen Ingenieure (VDI) kann man das Dilemma beobachten, in dem nicht nur die Cebit, sondern der gesamte IT-Standort Deutschland steckt. Lanier mit seinem lässigen Outfit, den langen Rastalocken und den radikalen Thesen ist schon in den Reihen seiner Zuhörer ein Exot. Beim VDI in der Pressekonferenz sitzen sowohl auf dem Podium als auch im Publikum ausschließlich Männer in eher dunklem Tuch.

Deutschland findet zu wenige IT-Fachkräfte

Wie bleibt oder wird man für die Kreativen relevant, die in der Branche zunehmend den Ton angeben? Schulnote „mangelhaft“, so könnte man die aktuellste VDI-Umfrage zum Thema IT-Fachkräfte zusammenfassen. Immer schwieriger wird es demnach hierzulande für Firmen, frei werdende Stellen zu besetzen. „Wir haben eine prekäre Situation auf dem IT-Arbeitsmarkt. Die Lage ist äußerst schlecht, auch schlechter als in den Vorjahren“, sagt der VDI-Experte Dieter Westerkamp. Verschärft gilt das für kleine und mittlere Unternehmen in Deutschland. Fast vier von fünf von ihnen sagen, dass sich nicht genügend Bewerber für offene Stellen interessieren. Dies fällt in eine Phase, in der der Umfrage zufolge immer mehr Unternehmen ihr Kernproblem entdecken: Sie brauchen neue, digitale Geschäftsmodelle. Genau hier ist Deutschland schwach, wie die Zahlen belegen.Helfen Jazzmusik und das deutlich verbesserte Catering in den Hallen des kühlen Kongresszentrums, um etwas von diesem kreativen, offenen Geist herüberschwappen zu lassen? Auf dem gigantischen Gelände mit den auf die Hannover-Messe zugeschnittenen Hallen ist das nicht einfach. Bei den großen Vorbildern für den Festival-Stil – beispielsweise dem Festival South by Southwest in Austin im US-Bundesstaat Texas – sind Stadt und Event eine Einheit. Verrückte Kneipen findet der Besucher dort um die Ecke, Überfüllung ist Programm.

Zu viel Platz killt die Atmosphäre

Hannover zeigt: Es gibt auch so etwas wie zu viel Platz. Am Montagnachmittag sollen beim neuen „Innovationscamp“ gleich sechs Arbeitsgruppen gleichzeitig in einem großen Messesaal über die Zukunft der Arbeit diskutieren – natürlich cool auch auf Barstühlen und Hockern. Sechs parallele Diskussionen in einem Raum, sechsmal Szenenapplaus, das machte das Zuhören mühsam.

Aber wo sonst hätte sich in den vergangenen Jahren das Cebit-Publikum mit der Frage beschäftigt, in welchem Alter man Kinder am besten in die digitale Welt einführt? Einer der sechs Workshops wird vom Bundesentwicklungshilfeministerium betreut. Es werden Start-ups präsentiert, die – wie in Afrika häufig zu sehen – Hightech mit elementaren sozialen Fragen verbinden, darunter eine Online-Plattform, die Ärzten ohne eigene Praxis hilft, Behandlungsräume zu mieten.

Die Sonne in Hannover ist gegen Mittag dann doch herausgekommen.

IT-Jobs – der Alarmruf deutscher Ingenieure

Auf einen arbeitslosen Informatiker kommen in Deutschland zurzeit 5,3 offene Stellen. 2016 lag dieser Wert bei 2,7. Im Durchschnitt des ersten Quartals 2018 waren es 41 350 offene Stellen. Laut einer Umfrage des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) unter den Mitgliedern gaben 46 Prozent an, Fachkräfte seien schlecht oder sehr schlecht verfügbar. 2017 war es erst ein Drittel. Neun von zehn Firmen erwarten, dass die Nachfrage weiter steigen wird.

28,5 Prozent der Befragten sagten, dass ihr Unternehmen neue digitale Geschäfte mache. Im Vorjahr war es erst ein Fünftel. Doch Deutschland ist weiter eher in traditionellen Bereichen stark. 75 Prozent sehen die Produktionstechnik vorn. Nur zehn Prozent glauben das von neuen Online-Geschäftsmodellen.