Reportage: Akiko Lachenmann (alm)


Mehr geben sie nicht preis. Es werden auch keine Fragen gestellt. Die Gemeinde will kein psychotherapeutisches Zentrum bieten, sondern einen Schutzraum für die Ausgestoßenen. "Sie bekommen einen Schlafplatz, Kleider, Frühstück und Abendessen sowie eine Wochenkarte für die Metro", zählt Neumark auf. Außerdem hat die Gemeinde die Sozialarbeiterin Kimberly Potter angestellt, eine hübsche blonde Frau, kaum älter als die Jugendlichen. Zurzeit sucht sie mit Jonathan ein finanzierbares College. Für Victor hat sie einen Job bei der Kaffeekette Starbucks organisiert. Für die anderen hält sie Ausschau nach Stellen, recherchiert nach Verwandten, druckt Wegbeschreibungen von Behörden aus. Über die Geschichte der Bewohner weiß die Sozialarbeiterin nur das Nötigste. "Unser Blick ist nach vorn gerichtet", sagt sie.

Fast überall sonst herrscht Ignoranz


Manche wollen reden. Dann klopft es an der Bürotür von Heidi Neumark. Dann erfährt die Pfarrerin wie Gotteshäuser in Utah, Texas und Georgia zu Leuten mit anderen sexuellen Neigungen stehen. "Heißes Öl wird dir auf die Augen gegossen und der Schmerz wird nie enden, dafür sorgt der Teufel." Der junge Mann, der den Drohungen seines Pfarrers Glauben schenkte, wuchs im Mormonenstaat Utah auf. Gottesfürchtig wie er war, hatte er nie gelernt, Sätze von der Kanzel zu hinterfragen. Heidi Neumark hatte alle Mühe, seine Ängste zu vertreiben. Lange betrat er keine Kirche mehr. Irgendwann sei er zurückgekehrt, so Neumark, als Mitglied ihrer Gemeinde.

Die evangelisch-lutherische Kirche ist eine der offensten in den USA. Die Lutheraner halten die gleichgeschlechtliche Liebe für natürlich, erteilen Eheleuten ihren Segen und homosexuellen Geistlichen die Ordination. Entsprechend verantwortlich fühlt sich die Kirche für die diskriminierten Schwulen und Lesben. Bereits in den 80er Jahren machte die New Yorker Gemeinde von sich reden, als sie Angehörige der Schwulenszene, die an Aids gestorben waren, im Kirchengarten bestattete. Beerdigungsinstitute hatten damals aus Angst vor Ansteckung jede Berührung mit den Leichnamen verweigert.

So fühlte sich Heidi Neumark sofort angesprochen, als sie 2006 einen Artikel anlässlich des Christopher Street Day in der "New York Times" las. Der Autor warf der Stadt vor, sie dürfe sich nicht als Schwulen- und Lesbenparadies brüsten, wenn sie Tausenden Jugendlichen kein Obdach gewähren könne. Für diese standen nur dreißig Schlafplätze zur Verfügung, begrenzt auf einen Monat, angeboten von ein paar Schwulenorganisationen. Bis heute hat sich daran nichts geändert. Die Kirche in der Upper West Side ist die einzige, die Plätze für ein ganzes Jahr bereitstellt.