Bei einem seiner beiden Deutschlandkonzerte begeistert der düstere Songpoet Nick Cave das Publikum im Stuttgarter Beethovensaal. Den Mann live zu erleben, der ein geordnetes und vor allem ruhiges Leben bevorzugt, ist eine rare Angelegenheit.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Stuttgart - Bisweilen gibt sich der Teufelskerl engelsgleich. Dann meint man fast ein Lächeln zu erahnen im sonst so strengen Antlitz des Australiers. Dann verlässt der sinistre Schmerzensmann fast die Bühne, um – für seine Verhältnisse – so etwas wie ein Bad in der Menge zu nehmen, nämlich vom äußersten Bühnenrand herab die ihm entgegen gereckten Hände zu berühren. Nahezu gelöst wirkt er in diesen Momenten, der hagere, nein, vielmehr spindeldürre und sich staksig bewegende Schlacks namens Nick Cave.

 

Die Sitzplatzreihen sind da schon längst keine geordneten Reihen mehr. Zwei Lieder lang nur sitzen die Zuschauer auf ihren Plätzen, dann fordert Nick Cave mit einer lässigen Handbewegung die Gäste auf, näher zu kommen. Sofort strömen zunächst überwiegend weibliche Besucher in den Bereich vor der Bühne, und in den folgenden zehn Minuten ist die komplette vordere Bestuhlung dahin, weil mittlerweile jeder Konzertbesucher steht. Bemerkenswert und unglücklich für diejenigen, die sich sofort nach Bekanntgabe des Auftritts Tickets für die ersten Reihen gesichert haben, aber – zumindest zu einem so frühen Zeitpunkt – auch nicht oft zu erleben.

Bemerkenswert ist aber ohnehin einiges an diesem Abend. Der Umstand etwa, dass der mittlerweile 57 Jahre alte Mann im seit Monaten ausverkauften Beethovensaal eines seiner nur zwei Deutschlandkonzerte ausgerechnet in Stuttgart gibt – das anderer fand in Berlin statt. Oder aber, dass er mitnichten ein neues Album veröffentlicht hat (sein letztes, „Push the Sky away“, erschien vor zwei Jahren), sondern einfach „nur so“ ein paar Konzerte gibt. Und dass der Abend zwar nicht als Auftritt mit seiner Band The Bad Seeds angekündigt war, aber trotzdem alte und bewährten Kumpanen mit auf der Bühne stehen: der Multiinstrumentalist Warren Ellis, in Stuttgart an Gitarre, Querflöte und Violine, der Bassist Martyn Casey, der sanft grundierende Schlagzeuger Thomas Wydler und der Keyboarder Larry Mullins.

Fantastisch feingliedrige Interpretation

Nick Cave live zu erleben, der ein geordnetes – er sitzt nach eigenen Angaben täglich von neun bis fünf Uhr in seinem Komponier- und Schreibzimmer – und vor allem ruhiges Leben bevorzugt, ist eine rare Angelegenheit. Im November 2006 gab er sein letztes Gastspiel in Stuttgart. Derwischgleich pflügte er sich am Flügel an jenem Abend mit bis zum Bauchnabel offenen Hemd durch ein eindringliches Konzert. Nun, bald zehn Jahre später, ist er nicht nur optisch in den Tempeln der Hochkultur angelangt: Im Beethovensaal nimmt er in einem perfekt geschneiderten Maßanzug am Shigeru-Kawai-Flügel Platz, klappt die Noten auf, eröffnet den zweistündigen Abend pünktlich mit dem Gongschlag um Acht und dem Stück „Water’s Edge“ von seinem quasi aktuellen letzten Album. Dann kommt der „Weeping Song“, der sofort nachdrücklich zeigt, warum ein Livekonzert durch nichts zu ersetzen ist.

Eine fantastisch feingliedrige Interpretation findet Nick Cave für dieses so barmende, flehende, von innerer Zerrissenheit kündende Lied. Nah dran an der ohnehin schon sanftmütig instrumentierten Studioeinspielung ist er, aber durch das Solopiano klingt das Stück noch intensiver las zuvor. Ohnehin beeindruckt die Zartheit, mit der Nick Cave und seine bisweilen komplett im Bühnendunkel verschwindenden Musiker die Stücke inszenieren, die bei den Bad Seeds ja oft im Donner dahergerumpelt kommen.

Cave kostet in Stuttgart sein reiches Repertoire gründlich aus. Bald die Hälfte von „Push the Sky away“ spielt er, wobei die Songs des Albums mittlerweile schon fast wie Klassiker klingen, aber auch viele ältere und gar sehr alte Stücke. „From her to Eternity“ etwa stammt von seinem mehr als dreißig Jahre alten Debütalbum.

Riesenjubel vor der Zugabe

Mit „Tupelo“ und „The Mercy Seat“, zwei seiner großartigen Lieder, biegt er schließlich in die Zielgerade ein, die in einem orgiastischen und sich dennoch zu einem perfekten Guss fügenden „Jubilee Street“ mündet. Riesenjubel, ehe fünf Nummern zur Zugabe folgen, begeisternd vorgebracht auch dank dem zotteligen, aber den ganzen Abend fantastisch spielenden Warren Ellis.

„Let’s play it slowly, devilishly and sexy“, so sagt Nick Cave das drittletzte Lied „Jack the Ripper“ an – und damit bringt er auch die Marschroute des ganzen Konzerts trefflich auf den Punkt. Vorzüglich ausformulierte Musik, eingerichtet in einem blendenden kammermusikalischen Gewand, dazu die episch verstörenden Verse dieses so galanten Mannes, der sich auch Zornesausbrüche leistet: mit unwiderstehlichem Charisma schlägt Nick Cave den Betrachter und Zuhörer in Bann. Der Sänger und Pianist, der in seinen Texten immer wieder seine Nähe zu Gottes Widerpart beschwört, hat ein himmlisches Konzert abgeliefert.