„nachts leuchten die schiffe“ heißt das neue Buch des Lyrikers Nico Bleutge. Bei der Stuttgarter Lyriknacht an diesem Freitag wird er daraus lesen.

Stuttgart - „nachts leuchten die schiffe“ heißt das neue Buch des Lyrikers Nico Bleutge. Bei der Stuttgarter Lyriknacht an diesem Freitag wird er daraus lesen.

 
Herr Bleutge, immer wieder hört man, es gäbe einen Lyrikboom in Deutschland. Wie sehen Sie das?
Seitdem ich in diesem Literaturbetrieb bin, gibt es jedes Jahr mindestens einen Artikel, der den Lyrikboom beschwört. Da liegt die Vermutung nahe, dass nicht ganz so viel Substanz dahinter steckt. Was es definitiv gibt, ist eine Szene von Schreibenden, die sich entwickelt hat – mit vielen unterschiedlichen Schreibweisen und einem großen Bewusstsein davon, was es heißt, Lyriker zu sein. Ein Lyriker schreibt ja nicht nur Gedichte, sondern macht sich auch über die Vermittlung von Lyrik Gedanken. Die Kehrseite ist, dass sich die Rezeption in der Öffentlichkeit und auch in den Medien mit Sicherheit nicht verbessert hat. Vor allem aber: Das Wissen darum, was ein Gedicht ist und kann, ist denkbar gering – vor allem an Schulen und Universitäten.
Haben Sie da selbst Erfahrungen gemacht?
Ja, ich kenne das von Lesungen an Schulen. Dabei sind gerade jüngere Schüler eigentlich sehr offen, wenn man ihnen entgegenkommt, Hürden abbaut und ihnen erklärt: Ihr könnt erst einmal alles zu dem Gedicht sagen, was ihr wollt. Das macht ihnen sogar großen Spaß. Aber viele Lehrer haben sehr große Probleme mit Lyrik, sodass gerade das Gedicht, das ja der Inbegriff von Offenheit und Vieldeutigkeit ist, für genau das Gegenteil missbraucht wird, nämlich dafür, ihm eine bestimmte, fast kanonisierte Interpretation aufzudrücken. Die ganze Beschäftigung mit Lyrik in der Schule läuft oft auf die dämliche Frage hinaus: Was will uns der Autor eindeutig damit sagen?
Die wichtigste literarische Auszeichnung in Deutschland, der Georg-Büchner-Preis, geht in diesem Jahr an einen Dichter, an Jan Wagner. Profitiert davon die Lyrik insgesamt?
Solche großen Preise werfen das Licht vor allem auf eine Person. Eine Förderung in der Breite wird dadurch eher unterlaufen. Diese Entscheidungen werden zwar immer so verkauft, als würde damit das Gedicht insgesamt gefördert werden. Aber das ist schwierig. Denn es geht doch um bestimmte ästhetische Ansätze, die da ausgezeichnet werden, und diese Ansätze bilden mitnichten die große Vielfalt ab, die es in der deutschsprachigen Lyriklandschaft gibt. Wenn man das Gedicht aus seiner Nische holen will, dann führt der Weg gewiss nicht über die Auszeichnung eines einzelnen Dichters.
Was macht ein gelungenes Gedicht für Sie aus?
Für mich ist ein gelungenes Gedicht etwas, das meine Vorstellungen und Kategorien aushebelt oder sprengt. Ein solches Gedicht kann dazu führen, dass Vorstellungen davon, wie Sprache, wie Weltwahrnehmung funktioniert, noch einmal ganz neu ausgerichtet werden. Das kann im günstigsten Fall auch dadurch geschehen, dass ich ein Gedicht lese und erst einmal keine Ahnung habe, worum es da eigentlich geht, und wie der sprichwörtliche Ochs vorm Berg stehe. Aber man spürt beim Lesen: Da passiert etwas, zum Beispiel mit Sprache oder mit der Art, wie Dinge miteinander verknüpft oder verschoben werden. Im besten Fall wird so eine neue Offenheit erzeugt, die es im Ganzen ermöglicht, dass man einen anderen Blick auf die Welt entwickeln kann.
Das Gedicht also als Anstoß zum genaueren Wahrnehmen, auch zum Begreifen?
Durchaus. Das Gedicht bietet weitaus mehr als einen kurzen, schönen Moment. Natürlich ist es auch für Schönheit zuständig, aber es bietet darüberhinaus die Möglichkeit, Erkenntnis zu gewinnen. Einfach, weil das Gedicht die komplexe und brüchige Gegenwart wunderbar reflektieren kann durch seine Mehrdeutigkeit und durch die Art, wie Abkürzungen genommen und Dinge ineinander geschnitten werden. Gedichte können Brüche ganz anders abbilden und reflektieren als Prosa, in der ein Autor erst einmal Erzählzusammenhänge herstellen muss.
Manche Zeilen in Ihren Gedichten erscheinen zunächst unverständlich. Ist es notwendig, alles zu verstehen?
Das Verstehen im klassischen Sinne spielt, jedenfalls so wie ich Gedichte lese, keine große Rolle. In unserem Alltag vermittelt ein Satz gemeinhin Informationen. Würde auch eine Gedichtzeile darauf reduziert, etwas begriffen zu haben, dann wäre das ein sehr verkürztes Verständnis dessen, was Sprache in ihrer Gesamtheit ist. Sprache macht verschiedene Bedeutungsräume auf, sie arbeitet mit musikalischen Elementen. Es gibt rhythmische, klangliche Muster, die Atmosphären herstellen können, die sich zuweilen unter der Wahrnehmungsschwelle entfalten. Lyrik unterläuft gerade die ganzen Trennungen, die man gewohnt ist im Alltag, zum Beispiel in Sinnlichkeit und Verstand, ich und die Dinge. Im Gedicht spürt man immer, dass eine Gesamtheit da ist.
Sie waren 2013/2014 längere Zeit in Istanbul. Die Gedichte in Ihrem neuen Band „nachts leuchten die schiffe“ reflektieren auch die gesellschaftlichen Zustände dort. Geschieht das eher beiläufig oder sehr gezielt?
Das war ein eminenter Teil meiner Wahrnehmung dort. Man wusste, wo die Polizeibusse stehen, die nur darauf warten auszurücken, wenn es Proteste gibt. Sehr viel von dem, was jetzt in der Türkei passiert, war früher schon absehbar. Man konnte diese ganze Maschinerie erleben: Wasserwerfer, Tränengas, die Brutalität, mit der gegen Demonstranten vorgegangen wurde.
Ihre Gedichte prägt eine große Wahrnehmungslust und Beschreibungsgenauigkeit. Pathos ist ihnen hingegen ganz fremd. Ist das eine bewusste Zurückhaltung?
Ja, Pathos spielt in meinen Gedichten eher keine Rolle. Das bedeutet aber nicht, dass Gefühle ausgespart würden. Emotionalität ist über den Rhythmus sehr präsent. Das spricht mich so sensorisch an, dass ich mir eine intensivere Art von Emotionalität gar nicht vorstellen kann. Wenn ich rhythmische Muster lese, dann kann es zuweilen so weit gehen, dass ich sie körperlich spüre. Es gibt solche Momente, wo man nicht mehr genau unterscheiden kann, ist das ein Gedanke, den ich habe, oder ein Gefühl. Jedes Gefühl hat einen gedanklichen Anteil, und jeder Gedanke ist so euphorisch aufgeladen, dass sich das ohnehin nicht trennen lässt.

Nico Bleutge: „nachts leuchten die schiffe“, C. H. Beck Verlag, 88 Seiten, 16,95 Euro