Wie fühlt man sich am Rand? Nicolas Mathieu macht aus dem sozialen Niedergang in der französischen Provinz einen Roman, der in das Herz unserer Zeit trifft.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Auch wenn die, die etwas zu sagen haben, gerade daran arbeiten, die Stadt für den Tourismus attraktiv zu machen, immerhin gibt es einen See und eine Minigolfanlage, liegt sie doch in einer schmucklosen Ecke Frankreichs, fernab der Reiserouten in ein schöneres Leben. Irgendwo zwischen Deutschland, Luxemburg und den Plattenbauten, die ein inzwischen abgewickelter Industriestandort aus dem Boden getrieben hat. Wer hier aufwächst, hat nicht viele Möglichkeiten: „Die Männer redeten wenig und starben früh. Die Frauen färbten sich die Haare und verloren nach und nach ihren Optimismus“. Man wird entlassen, geschieden, betrogen und bekommt schließlich Krebs, wenn man sich nicht zuvor schon auf der Straße totgefahren hat. Den Rest besorgt der Pastis.

 

Der Traum, sich so schnell wie möglich aus dem Staub zu machen, ist das Einzige, was die Kinder der Reichen mit denen gemein haben, deren Eltern sich auf bescheidene Weise durchschlagen müssen. Jenen winkt immerhin ein rettender Platz in Elitehochschulen, diesen bleibt das Militär. Doch erst einmal muss man seine Jugend überstehen. Davon erzählt Nicholas Mathieus 2018 mit dem wichtigsten französischen Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichneten Roman „Wie später ihre Kinder“. Soziologie als Coming-of-Age-Geschichte. Es beginnt in der drückenden Hitze des Sommers 1992 und endet 1998, dem Jahr, in dem Frankreichs Sieg bei der Weltmeisterschaft die sanfte Beklemmung, dazuzugehören, in einem kurzen Moment der Versöhnung aufgehen lässt.

Sex, Gewalt und Alkohol

Im Mittelpunkt steht der zu Beginn 14-jährige Anthony, eine Hauptfigur mit Pickeln, zu großen Füßen und einem halbgeschlossenen Augenlid, das es auch nicht einfacher macht, seine Sehnsucht nach Pferdeschwänzen, Mädchenbeinen, Hintern und Brüsten mit dem Gefühl der eigenen trostlosen Unscheinbarkeit in Einklang zu bringen. Zumal ihm nicht gegeben ist, mit Sprache den ein oder anderen Makel auszugleichen. Umso heftiger gärt hinter der kargen Einsilbigkeit der Dialoge sein ausdrucksloses Verlangen nach der reinen Haut der bessergestellten und besser aussehenden Tochter eines Kommunalpolitikers.

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Was die Ereignisse in Bewegung bringt, ist ein in der Garage eingemottetes Motorrad. In ihm schlummern die abgelegten Freiheitsträume des Vaters, weshalb die Maschine mit einem strikten Tabu belegt ist. Um an einer Party teilnehmen zu können, schnappt sich Anthony den Fetisch unerfüllter Hoffnungen. Und es beginnt eine rasante Fahrt durch eine Jugend in jenen Randgebieten, die nur selten zum Schauplatz der Literatur werden, aus denen sich gleichwohl ein gesellschaftlicher Normalfall zusammensetzt, von dem man allerdings nur Notiz nimmt, wenn er sich in bestürzenden politischen Voten Ausdruck verschafft.

Sex, Gewalt, Drogen, Alkohol sind der Treibstoff, um sich aus der deindustrialisierten Tristesse der Eltern heraustragen zu lassen. In vier jeweils zwei Jahre voneinander getrennten Etappen kreuzt man die Schnittpunkte der französischen Klassengesellschaft: die feinen Unterschiede von hohlköpfigen Arztsprösslingen; die Lieferketten des Drogenhandels, mit dem die Söhne der Einwanderer zwischen den Welten, von denen sie in keiner mehr wirklich zuhause sind, ein solide Auskommen zu finden versuchen; oder die Veränderungen in der Arbeitswelt. „Die Fabrik“ ist nur noch der Name einer Kneipe, in der man sich weinerlich oder bösartig darüber hinwegtröstet, dass man sich in Zeiten erkaltender Hochöfen eben als Kleinunternehmer mit Heckenschneiden und Gartenarbeiten über Wasser halten muss.

Vom Teenager zum Wutbürger

Es ist heute ein eigener Sport, seine waghalsigen Manöver gegen die Eintönigkeit des Lebens, welcher Art sie auch seien, mit einer Helmkamera aufzuzeichnen. Und vermutlich hätte sich heute auch der junge Anthony so ein Ding aufgeschraubt, um den Glücksrausch der Geschwindigkeit festzuhalten. Doch in den Jahren, in denen er durch die ostfranzösische Provinz brettert, gehören die digitalen Daseinsverstärker noch nicht zum Standard. Statt einer Helmkamera hat Anthony einen Erzähler an seiner Seite, der ihm vorbehaltlos und unbestechlich durch das Dickicht seines Erlebens folgt. „Unter seinen Händen das aufgeregte Beben des Motors, dieses explosive Gefühl, der höllische Lärm, der köstliche Duft der Abgase.“

Nicholas Mathieu, 1978 in Lothringen geboren und damit etwa so alt wie Anthony, führt seine Figuren nicht vor, um an ihnen Erkenntnisse über die kleine freudlose Welt der Abgehängten zu demonstrieren. Sie sind keine Objekte kritischer Neugier, sondern Subjekte, aus deren Perspektive die Dinge eben anders aussehen als in den kultivierten Zonen, in denen man sich paternalistisch den Kopf zerbricht, was hier nur falsch gelaufen ist.

Der Roman liefert die Vorgeschichte, zu jenen gesellschaftlichen Verwandlungen, die nicht nur Frankreich gerade umtreiben. Ein Verwandter Anthonys wird zu Grabe getragen, dessen Leben die wirtschaftliche Geschichte der Gegend widerspiegelt. Zu seiner Beerdigung kommen auch die einstigen Kollegen aus dem Maghreb, die an seiner Seite geschuftet haben, ohne je wirklich dazuzugehören. Sie erweisen ihm die letzte Ehre. Er war Arbeiter, Gewerkschafter – zuletzt klebte er Plakate für jene Partei, die damals noch Front National hieß.

Auch heute trägt Anthony wohl keine Helmkamera, aber möglicherweise eine gelbe Weste. Er wird seine Frustration und seinen Hass auf andere Weise abreagieren als sein Vater - und ihm vermutlich doch immer ähnlicher geworden sein. Ohne Voyeurismus, Häme oder Selbstgerechtigkeit hält Nicholas Mathieus so melancholischer wie fesselnder Roman das Panorama einer Gesellschaft zwischen Abstieg und Selbstbehauptung fest. Und mögen die Bewohner dieses Hinterlandes der Gewöhnlichkeit von ihrem Leben desillusioniert sein – als Stoff für einen großen Roman taugt es allemal.

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder. Roman. Übersetzt von Lena Müller und André Hansen. Hanser Berlin. 445 Seiten, 24 Euro.