Nicole Radde ist Professorin für Systemtheorie in der Systembiologie an der Uni Stuttgart, Mitglied im Exzellenz-Forschungsverbund Simtech, neuerdings auch Gleichstellungsbeauftragte der Uni und Mutter zweier kleiner Kinder. Wie schafft sie das alles bloß?

Stuttgart - In ihrem Büro lehnt ein Rennrad an der Wand, Klickschuhe und Trikot liegen bereit für den schnellen Ritt. Auch in ihrem Beruf muss Nicole Radde schnell sein. Die 40-Jährige ist seit Januar 2015 die W-3-Professorin für Systemtheorie in der Systembiologie an der Uni Stuttgart, Mitglied im Exzellenzforschungsverbund Simulationstechnologie (Simtech) – und seit 1. Oktober auch noch die Gleichstellungsbeauftragte der Hochschule als Nachfolgerin von Gabriele Hardtmann, die in den Ruhestand geht. „Mit dem neuen Amt muss sich das erst noch einspielen“, sagt Nicole Radde. Denn die anderthalb Tage pro Woche, die sie im Gleichstellungsbüro in der Stadtmitte sein will, muss sie sich schon herausschnitzen aus ihrem Alltag als Spitzenforscherin und Hochschullehrerin auf dem Campus in Stuttgart-Vaihingen.

 

Die Gleichstellungsbeauftragte strebt mehr Vielfalt an – also einen höheren Frauenanteil

Dort forscht Nicole Radde mit Hilfe von neuen, experimentellen Techniken und mathematischen Modellierungsansätzen daran, Prozesse in einer Körperzelle besser zu verstehen. Dabei gehe es beispielsweise um eine gestörte Signalübertragung bei Krebszellen. Hier modellbasiert zu helfen und Therapien zu entwickeln – „das ist die Vision“. Zudem lehrt Nicole Radde in technischer Kybernetik, aber auch in der technischen Biologie und Simtech – einem Elitestudiengang. Ihre Idee, in theoretischer Physik zu promovieren, hatte sie nach ihrem eigenen Studium rasch zugunsten der Lebenswissenschaften aufgegeben. „Das ist gesellschaftsrelevanter“, findet Radde. Und ein wichtiges Kriterium sei auch gewesen, dass dort die Teams gemischter waren. Möglichst große Vielfalt – neudeutsch Diversität – strebt sie auch als Gleichstellungsbeauftragte an. Das bedeutet an der Uni Stuttgart immer noch eine Erhöhung des Frauenanteils – bei Studium, Promotion, Professuren.

Auf ihrem Schreibtisch im Institut für Systemtheorie und Regelungstechnik herrscht ein strukturiertes Chaos, über das die Fotos ihrer beiden Kinder, vier und sechs Jahre alt, zu wachen scheinen. An der Wand hängt ein Frauenkalender mit dem Porträt von Käthe Hamburger, die in den 1950er Jahren als Professorin für Literaturwissenschaften und Philosophie Glanz an die Uni Stuttgart gebracht hatte, die damals noch Technische Hochschule hieß. „Ich war die erste Professorin hier an der Fakultät“, berichtet Nicole Radde, die mit 32 als Juniorprofessorin bei Simtech eingestiegen ist, und die man wegen ihres jungen Aussehen jetzt noch locker für eine Studentin halten könnte. Doch was treibt eine junge Frau dazu, mitten in einer entscheidenden Phase ihrer akademischen Karriere eine Familie zu gründen und sich zu dem Job als Wissenschaftlerin auch noch das Amt der Gleichstellungsbeauftragten ans Bein zu binden?

In der Uni forscht sie an der Signalübertragung, zuhause backt sie Kuchen für die Kita

Das eine, erklärt sie, sei eine Folge des anderen, also ihrer eigenen Erfahrungen und Lebensgeschichte. „Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist mir schon ein Anliegen.“ Doch wie geht das, mit einem vierjährigen Bub in der Kita, einer Sechsjährigen, die gerade eingeschult wurde, und Großeltern, die weit weg wohnen? „Das macht mein Mann“, sagt sie. Der könne sich seine Zeit als Freiberufler einteilen und sei zuhause. „Aber Kuchen backen für die Kita, das mach ich“, versichert die Professorin, die an der Uni gern einen Familiencampus einrichten würde, mit einem Elternzimmer mit gesicherten Steckdosen und Schränken ohne scharfe Kanten.

Eine Willkommenskultur für schwangere Akademikerinnen wünscht sie sich ebenfalls – „eine gelebte Vereinbarkeit, die auch sichtbar ist“. Zum Beispiel in Form eines Willkommenspakets, das nicht nur Infomaterial enthält, sondern auch einen Schnulli mit Uni- oder Simtech-Logo.

Dass gerade ihre Fakultät mit dem Namen Konstruktions-, Produktions- und Fahrzeugtechnik die Fakultät mit dem geringsten Anteil an Studentinnen ist (13 Prozent) und auch bei den Mittelbauerinnen deutlich unter 20 Prozent, verwundert Nicole Radde nicht. Dass solche Themen Frauen nicht so ansprächen, liege auch daran, wie Studiengänge beworben und präsentiert werden, auf der Homepage, auf Flyern – sprachlich wie optisch.

Und daran, dass es noch zu wenige Rollenvorbilder gebe. Ihrer eigenen Vorbildfunktion ist sie sich bewusst: „Bei mir ist der Frauenanteil signifikant höher als sonst in der Fakultät“, sagt sie. Fifty-fifty sei er in ihren Vorlesungen, auch bei den Bachelor- und Masterarbeiten. Zwei ihrer drei Doktoranden sind Frauen. „Beim Networking“, sagt sie, „können wir uns was von den Männern abschauen“. Ideologische Scheuklappen sind ihr aber fremd. Bei der Beteiligung an Berufungsverfahren lässt sie sich auch von einem Mann vertreten.