Fast 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist in Deutschland eine Welle von Verfahren gegen mutmaßliche NS-Verbrecher zu erwarten. Allein in dieser Woche wurden fünf Fälle bekannt.

Stuttgart/Ludwigsburg - Das Urteil gegen den KZ-Aufseher John Demjanjuk hat die Weichen für neue NS-Verfahren in Deutschland gestellt: Nach der Verhaftung des Ex-Auschwitz-Wachmannes Hans Lipschis aus Aalen in Baden-Württemberg ermitteln die Behörden auch gegen vier weitere frühere KZ-Aufseher in Auschwitz-Birkenau aus Niedersachsen.

 

Das niedersächsische Justizministerium informierte am Mittwoch den Rechtsausschuss des Landtags über den Stand entsprechender Vorermittlungen. Sie wurden von der Zentralstelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg bei Stuttgart eingeleitet. Der Vorwurf gegen die vier Männer lautet auf Beihilfe zum Mord. Auch gegen den 93-jährigen Lipschis wird wegen des desselben Verdachts ermittelt.

Langjährige Untätigkeit gegen mutmaßliche NS-Verbrecher

Die Zentralstelle begründete die langjährige Untätigkeit gegen mutmaßliche NS-Verbrecher mit der früheren Rechtsprechung deutscher Gerichte. „Die Rechtsprechung im Fall des KZ-Aufsehers John Demjanjuk hat uns veranlasst, im Fall Lipschis neue Ermittlungen anzustellen“, sagte Behördenleiter Kurt Schrimm. Er reagierte damit auf einen Bericht der „Welt“ vom Mittwoch, nach dem deutsche Behörden früher gegen den einstigen KZ-Bediensteten hätten vorgehen können.

Der gebürtige Litauer Lipschis, der 1983 aus den USA nach Deutschland übersiedelte, war am Montag verhaftet und im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg (Kreis Ludwigsburg) in Untersuchungshaft genommen worden. Er soll von Herbst 1941 bis zur Auflösung des Lagers im Frühjahr 1945 Morde im Konzentrationslager Auschwitz unterstützt haben.

Wendepunkt in der Rechtsprechung

Die Verurteilung von Demjanjuk gilt als Wendepunkt in der Rechtsprechung. Bis zu diesem Zeitpunkt habe bei NS-Delikten nur der Nachweis einer Individualschuld zu einer Verurteilung führen können, erläuterte Schrimm. Das Landgericht München hatte Demjanjuk dagegen zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 28 060 Juden im Vernichtungslager Sobibor verurteilt - und damit nach Auffassung Schrimms „Rechtsgeschichte“ geschrieben.

Nach dem Richterspruch im Mai 2011 hatte die Zentralstelle unter anderem den Fall Lipschis erneut geprüft. Schrimm ging zuletzt davon aus, dass sich möglicherweise 50 mutmaßliche KZ-Aufseher aus den Vernichtungslagern Auschwitz und Auschwitz-Birkenau noch in diesem Jahr wegen Beihilfe zum Mord vor Gericht verantworten müssen.

Als Aufseher und Koch wusste Lipschis von den Massenmorden

Die „Welt“ berichtete, Alfred Streim, damals stellvertretender Zentralstellenleiter, habe 1983 in den USA umfangreiches Material gesichtet, aber kein Vorermittlungsverfahren gegen Lipschis eingeleitet. Schrimm berichtete, Streim habe nach der Sichtung von 97 Vorgängen sowie von Protokollen von Zeugenvernehmungen keine andere Möglichkeit gesehen, als Lipschis unbehelligt zu lassen. Heute reiche es dagegen für eine Anklage aus, dass Lipschis als Aufseher und Koch von den Massenmorden im Lager wusste. Damit habe er seinen Teil dazu beigetragen, dass diese „Tötungsmaschinerie“ funktionierte.

Die niedersächsische Landesregierung will die strafrechtliche Aufarbeitung von NS-Gewaltverbrechen unterstützen. Das bezieht sich auch auf laufende Ermittlungen gegen zwei in Niedersachsen wohnende frühere Angehörige der Wehrmachtsdivision „Hermann Göring“. Beide stehen im Verdacht, 1944 an Massakern ihrer Einheit an italienischen Zivilisten beteiligt gewesen zu sein. Während einer der beiden vor einem italienischen Militärgericht freigesprochen wurde, war der andere in Abwesenheit wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Wegen der problematischen Rechtslage gab es bisher aber keine Auslieferung des heute 88-jährigen Rentners.