Vor etwa drei Jahren verschleppte die Sekte Boko Haram 276 Schulmädchen. Seitdem erschüttern Attentate durch Kinder Nigeria. Wer den Islamisten entkommen konnte, sieht sich weiterhin konfrontiert mit Hass und Misstrauen.

Geiseln - Für einen im Kriegsgebiet gelegenen Tierpark sieht der Zoo von Maiduguri sehr aufgeräumt aus. Ein Elefant steht im Schatten eines blätterlosen Baumes, ein Löwe brüllt aus Langeweile, zwei Schimpansen klettern den Drahtzaun ihres Geheges auf und ab. Mitten in der Hauptstadt der nigerianischen Borno-Provinz, in der seit Jahren einer der grausamsten Konflikte der Welt tobt, pflegen sich im Zoo junge Liebespaare zu treffen, um Händchen zu halten. Ausländischen Reportern dient der Ort als Refugium, in dem sich Kinder sicher genug fühlen, um ihre traurigen Geschichten erzählen zu können.

 

Fatima (9), Mohamed (12) und Muna (18) sitzen auf einer Bank neben der Schlangengrube und halten sich krampfhaft an ihren Limonadenflaschen fest, während sie von der Verschleppung durch die Boko-Haram-Sekte, von ihren verschwundenen Eltern, von Auspeitschungen und einem Soldaten berichten, der vor ihren Augen „geschlachtet“ worden sei. Maiduguri, sagt unsere Übersetzerin, war einst „die friedlichste Stadt der Welt“. Ein paar Stunden zuvor, wenige Kilometer entfernt, ereignet sich neben dem sandigen Poloplatz eine ganz andere Szene. Zwei Mädchen im Alter von 15 Jahren versuchen, mit um den Leib gebundenen Sprengsätzen in eine zum Frühgebet gefüllte Moschee zu gelangen, werden aber von einem aufmerksamen Mann kurz vor dem Eingang gestoppt. Eines der Mädchen zündet ihren Sprengstoffgürtel und reißt sich und ihre Kameradin in den Tod. Wie durch ein Wunder werden nur fünf Beistehende verletzt. Bei einem ähnlichen Anschlag vor eineinhalb Jahren fanden am selben Ort mehr als 20 Menschen den Tod.

80 Prozent der Attentäter sind minderjährige Mädchen

Der heutige Anschlag war der dreißigste seiner Art in diesem Jahr. Die Behauptung der Regierung, die Boko-Haram-Sekte besiegt und die Provinz unter ihre Kontrolle gebracht zu haben, wurde von den ständigen Explosionen längst in Stücke gerissen. Nach Angaben des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen (Unicef) wurden seit der Entführung der Schülerinnen aus dem Städtchen Chibok mehr als 120 Kinder zu sogenannten Selbstmordattentaten missbraucht. In mehr als 80 Prozent der Fälle handelte es sich um minderjährige Mädchen – kein einziger erwachsener Mann war darunter.

Damals, fast auf den Tag genau vor drei Jahren, waren 276 christliche Abiturientinnen aus den Schlafsälen ihres Internats verschleppt worden: Die Massenentführung machte über den Twitter-Hashtag „#BringBackOurGirls“ weltweit Furore. Während rund 50 Schülerinnen noch in derselben Nacht die Flucht gelang und 21 weitere im Herbst des vergangenen Jahres nach Verhandlungen des Internationalen Komitee des Roten Kreuzes entlassen wurden, fehlt vom Rest der Mädchen noch immer jede Spur. Selbst die Entlassenen werden von der Armee seit Monaten unter Verschluss gehalten. Nur an Weihnachten durften einige von ihnen kurz ihre Familien in Chibok besuchen. Man könne nicht sicher sein, ob die islamistischen Extremisten mit ihren Indoktrinierungsprogrammen nicht erfolgreich gewesen seien, sagt das Militär zur Begründung. Hunderte, wenn nicht Tausende von Frauen und Kindern, die ebenfalls in die Hände von Boko Haram geraten waren, befinden sich in einer Art Observierungshaft der Soldaten.

Über 2000 Frauen und Kinder wurden zu Geiseln der Extremisten

Nach Angaben von Human Rights Watch wurden während des achtjährigen Konflikts weit über zweitausend Frauen und Kinder von den Extremisten zu Geiseln genommen. Unter ihnen sind Muna, Mohamed und Fatima, deren eiserner Griff um die Limonadenflaschen sich nur langsam lockert. Sie hatten noch geschlafen, als die Milizionäre eines frühen Morgens im Januar 2015 ihr Dorf Daban Waya im äußersten Nordosten des Landes angriffen. Bei den ersten Schüssen rannten die Kinder aus dem Haus und in die Büsche. In der allgemeinen Aufregung verloren sie ihre Eltern, die sie seitdem nicht wieder zu Gesicht bekommen haben. Unter Munas Führung schlugen sich die Geschwister in Richtung des Nachbarstaats Tschad durch. Doch als sie in einem Kanu einen Arm des Tschadsees überqueren wollten, wurden sie von Kämpfern der islamistischen Sekte aufgegriffen. „Sie erschossen den Bootsbesitzer“, sagt Mohamed und schaut wie abwesend vor sich in den Sand.

Die Extremisten brachten ihre Beute zu einem Camp, das eher einem totalitären Umerziehungslager als der Basis einer Kampftruppe glich. Die drei Geschwister wurden getrennt: Fatima musste Wasser oder Holz holen, während Muna einem der Kämpfer als „Ehefrau“ zugeführt wurde. Suchte das Mädchen dessen Begehrlichkeiten auszuweichen, sei sie verprügelt worden, erzählt die damals 16-Jährige leise. „Das einzig Gute an ihm war, dass er mir immer mal wieder etwas zu Essen abgab.“ Unterdessen musste Mohamed das Camp bewachen und zunächst mit einem Holzgewehr, später mit einer echten Kalaschnikow exerzieren.

Als Fatima eines Tages den Koran-Unterricht verpasste, wurde sie vor versammelter Mannschaft ausgepeitscht. Allein die Erinnerung schmerzt sie so sehr, dass sie gekrümmt fast von der Bank neben dem Schlangengehege rutscht. Ihr Bruder erzählt schließlich, wie sie alle den Tod eines gefangenen Soldaten mit ansehen mussten. Er wurde gefragt, ob er sich der Sekte anschließen oder lieber sterben wolle. Lieber sterben, sagte dieser. Ihm wurde daraufhin die Kehle durchschnitten.

Befreite Mädchen werden weiterhin interniert

Muna will mitbekommen haben, wie Mädchen auf Selbstmordanschläge vorbereitet wurden. Dafür seien allerdings nur Verschleppte infrage gekommen, die bereits längere Zeit unter den Milizionären lebten. Ihnen sei die sofortige Aufnahme ins Paradies, bleibender Ruhm als Märtyrer sowie materieller Segen für ihre irdische Familie versprochen worden. Anderen Berichten zufolge werden die Selbstmordkandidatinnen auch mit Drogen gefügig gemacht. Eines der wenigen Mädchen, das sich vor der Zündung ihres Sprengsatzes noch eines Besseren besann, habe sich kaum auf den Beinen halten können, berichtet ein Offizier. Manche der sogenannten Selbstmordattentäterinnen wüssten vermutlich nicht einmal, dass sie in die Luft gesprengt würden, fügt der Mann hinzu. Die Extremisten ließen sie im Glauben, dass sie lediglich Sprengstoff von einem Ort zum anderen bringen müssten, der dann aus der Ferne gezündet werde.

Muna, Mohamed und Fatima gelang schließlich, was nur wenige schafften – die Flucht. Dieses Mal konnten sie ungehindert die Grenze in den Tschad überqueren: Dort harrten sie mehr als ein Jahr lang in einem Flüchtlingslager aus. Dem Umstand ist zu verdanken, dass die Geschwister heute in relativer Freiheit in einem Lager für Vertriebene in Maiduguri leben können: Für weniger Glückliche hört die Tortur selbst nach der Befreiung aus der Hand der Extremisten nicht auf. Nigerias Militär meint sich nicht sicher sein zu können, ob die befreiten Geiseln nicht zuvor erfolgreich in Killermaschinen verwandelt wurden: Allein in Maiduguris Giwa-Kaserne werden derzeit bis zu 4000 vermeintliche Boko-Haram-Mitglieder und Ex-Entführte festgehalten, darunter zahllose Frauen und Kinder.

Ihre langen Gewänder eignen sich als Verstecke von Sprengstoff

Die wachsende Zahl der sogenannten Selbstmordattentate scheint den Militärs recht zu geben: In Maiduguri vergeht kaum ein Tag, an dem nicht irgendwo zwei Mädchenkörper in Stücke gerissen werden. Gestern in einem Flüchtlingscamp, heute vor der Moschee nahe des Poloplatzes, am nächsten Tag am Eingang zur Universität. Warum die Heiligen Krieger am liebsten junge Mädchen als lebende Bomben missbrauchen, ist kein Geheimnis: Sie ziehen den geringsten Verdacht auf sich, während sich unter ihren langen Gewändern bestens Sprengstoffladungen verbergen lassen. Junge Frauen mit prüfenden Blicken anzustarren gilt unter Muslimen als anstößig. Bis vor Kurzem wurde es noch vermieden, sie einer Leibesvisitation zu unterziehen.

Über die Identität der eigentlichen Attentäter ist dagegen kaum etwas bekannt: Ob womöglich auch Entführte aus Chibok darunter waren, weiß keiner. Eines der wenigen Mädchen, das sich im letzten Moment doch noch anders entschied, berichtete, von ihrem eigenen Vater zu der mörderischen Tat überredet worden zu sein. „Selbst wenn sie töten, sind sie nicht Täter, sondern Opfer“, sagt Geoffrey Ijumba, der Chef des Unicef-Büros in Maiduguri. „Diese Kinder werden auf die schrecklichste Weise missbraucht.“

Nigerias Sicherheitskräfte werden Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen

Um Missbrauch handele es sich allerdings auch, wenn die Minderjährigen selbst nach ihrer Befreiung aus der Hand der Extremisten noch festgehalten werden, meint die nigerianische Human-Rights-Watch-Direktorin Mausi Segun: Für ihre Internierung gebe es „keinerlei rechtliche Grundlage“. Nigerias Sicherheitskräfte, die sich ohnehin zahllosen Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sehen, leisteten damit einer wachsenden Paranoia Vorschub, die die Rehabilitation befreiter Entführter und ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft fast unmöglich mache. Muna weiß aus eigener Erfahrung, wie schmerzlich es ist, wenn man als „Terroristenbraut“ denunziert wird, und die aus den Zwangsehen mit Boko-Haram-Kämpfern hervorgegangenen Kinder werden mit noch größerer Ablehnung konfrontiert. Der Unicef-Mitarbeiter Ijumba weiß von Jugendlichen, die lieber hinter Gitter zurückkehren wollten, als sich dem Hass ihrer einstigen Nachbarn auszusetzen. Nicht auszuschließen sei, dass dermaßen Gebrandmarkte den Extremisten in die Hände getrieben würden.

Fatima Akilu, die Gründerin der nigerianischen Neem-Stiftung, sieht ihre Heimat noch lange nicht zur Ruhe kommen, selbst wenn der Kampf der Militärs gegen die Milizionäre schließlich doch erfolgreich sein sollte. Für die Psychologin ist der Extremismus im nigerianischen Nordosten dessen seit Jahrzehnten anhaltender Marginalisierung und einer Spirale der Gewalt zwischen der Staatsmacht und den radikalisierten Mitgliedern der Boko-Haram-Sekte zuzuschreiben. Die Religion sei lediglich ein „Gefäß für deren Wut“. Die wachsenden Grausamkeiten der vergangenen Jahre habe die Bevölkerung auf eine kaum vorstellbare Weise traumatisiert, sagt Akilu. Kinder brachten ihre Eltern um, unzählige Familien zerbrachen, die Rate von Selbstmorden, auch ohne Sprengstoffgürtel, nimmt dramatische Ausmaße an.

Akilus Neem-Stiftung bietet ehemaligen Opfern Trauma-Beratung und ehemaligen Tätern Kurse zur Deradikalisierung an. „Wenn wir jetzt nichts tun“, sagt die Psychologin, „wird der Irrsinn siegen.“