Ja, Niki de Saint Phalle ist die Frau, die mit ihren Nana-Figuren ein Fest der weiblichen Körperlichkeit gefeiert hat. Sie aber auf diese Plastiken festzulegen, ist ungerecht. Und eine Ausstellung in der Frankfurter Kunsthalle Schirn kann das beweisen.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Dass die Kunsthalle Schirn im Herzen Frankfurts mit dieser Ausstellung von Niki de Saint Phalle einen Coup landen wird, weiß Museumschef Sebastian Baden schon, bevor die Schau überhaupt begonnen hat. Bei der Pressekonferenz, die traditionell einen Tag vor der Eröffnung stattfindet, gibt es nämlich nicht genug Sitzplätze für die angereisten Journalisten. „Es sind mehr hier als bei Chagall“, stellt Baden fest – und ist doch etwas verwundert, dass ein Publikumsmagnet wie Chagall, dem die Schirn zuvor eine Ausstellung gewidmet hat, noch zu übertrumpfen ist.

 

Widerspenstige Kunst

Doch tatsächlich schlägt diese Niki-de-Saint-Phalle-Retrospektive, die zusammen mit dem Kunsthaus Zürich entwickelt wurde, die Marc-Chagall-Schau nicht nur in Sachen Popularität, sondern auch, was künstlerische Vielfalt und gesellschaftliche Relevanz angeht. Es ist erstaunlich, wie nah diese französisch-schweizerische Künstlerin, die von 1930 bis 2002 gelebt hat, in allen ihren Schaffensphasen am Hier und Jetzt ist, wie widerspenstig ihre auf den ersten Blick manchmal fast gefällig wirkende Kunst in Wirklichkeit ist.

Feministische Rückeroberung

Das gilt auch für die Nanas, diese übergroß-gewaltigen Frauenkörper, wegen denen Niki de Saint Phalle auch bei all jenen Menschen ein Name ist, die sich sonst nicht besonders für Kunst interessieren. Diese meistens in einer munteren Tanzbewegung erstarrt zu sein scheinenden weiblichen Figuren mit großen Brüsten, großen Hintern und kleinen Köpfen, die in der 30 000 Jahre alten Venus von Willendorf eine frühe Vorfahrin gefunden haben, erwecken heutzutage mitunter den Eindruck des Dekorativen, des Putzigen, des Harmlosen. Doch letztlich stehen sie auch im Jahr 2023 immer noch für eine feministischen Rückeroberung, für eine Befreiung des weiblichen Körpers vom männlichen Blick, der die Kunstgeschichte Jahrhundertelang bestimmt und geprägt hat.

Erdverbunden und doch federleicht scheint die polychrome Polyester-Nana „La Tempérance“ inmitten der Frankfurter Ausstellung mit ihren Goldflügeln abheben zu wollen, während die „Nana rouge jambes en l’air“ selbstvergessen beim Kopfstand die Beine gen Himmel streckt und die „Nana Mosaïque Noire“ die Hüften und Arme so ausgelassen kreisen lässt, als gehörte sie zu den Tänzerinnen einer Lizzo-Show.

Korrektur der Rezeptionsgeschichte

Als in Hannover im Jahr 1974 die ersten Nanas im aufgestellt wurden, gab es noch einen öffentlichen Sturm der Empörung. 18 000 Menschen protestierten gegen das, was sie „Stadtverschandelung“ nannten. Heute sind die Skulpturen Niki de Saint Phalles ein so selbstverständlicher Teil der Kunst im öffentlichen Raum, dass man manchmal vergisst, wie subversiv diese neue Weiblichkeit einmal war – und heute vielleicht immer noch ist, wenn man sieht, wie bei Instagram und Co. immer noch normierte Körpermaße kultisch verehrt werden.

Die Nanas, denen Niki de Saint Phalle, ihre Popularität verdankt, stehen zwar im Mittelpunkt der Ausstellung in Frankfurt. Trotzdem fände es die Kuratorin Katharina Dohm gut, „wenn es eine Korrektur der Rezeptionsgeschichte geben würde“ und de Saint Phalle irgendwann einmal nicht mehr nur als die Schöpferin der Nanas bekannt wäre, sondern auch als die Künstlerin, die das Gewehr in die Hand genommen hat.

Die Schau gleicht einem Entdeckungspark

In den 1960er Jahren hat sie auf Notre-Dame, auf Godzilla, Fidel Castro oder John F. Kennedy geschossen – auf mit Farben gefüllte weiße Gipsbilder, die erst durch die Schüsse zu kunterbunt blutenden Kunstwerken wurden. Bevor man in Frankfurt die Ausstellung betritt, begrüßt einen die Künstlerin in einem kurzen Videoclip im Treppenhaus: „Ich heiße Niki de Saint Phalle und ich mache monumentale Skulpturen“, sagt sie – und schießt dann mit einer Schrotflinte auf ihre Kunst. Und bevor man in der Ausstellung dann zu den Nanas kommt, führt der Weg vorbei an Schießbildern wie „King Kong“ – einem Werk aus dem Jahr 1962 , bei dem die Zuschauenden damals Mittäterinnen und -täter waren, weil sie aufgefordert wurden, selbst die Waffe in die Hand zu nehmen und abzudrücken. Das Ergebnis ist ein verstörend-düsterer gesellschaftspolitischer Kommentar auf eine Zeit, als während der Kubakrise toxische Männlichkeit fast einen weiteren Weltkrieg heraufbeschworen hätte.

Die Niki-de-Saint-Phalle-Ausstellung in Frankfurt gleicht somit einem Entdeckungspark, einem grandiosen Abenteuerspielplatz, der die Vielfältigkeit einer engagierten Künstlerin zeigt, der man niemals gerecht werden kann, wenn man sie auf eine ihrer Schaffensphasen festlegt.

Niki de Saint Phalle in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt

Die Künstlerin
 Niki de Saint Phalle (1930–2002) ist einer der wichtigsten und prominentsten Vertreterinnen der europäischen Pop-Art. Sie ist zwar vor allem für ihre bunten, übergroßen Frauenfiguren bekannt, die Nanas, sie ist aber auch eine Mitbegründerin des Happenings und hat mir ihren Schießbildern (Tirs) Kunstgeschichte geschrieben.

Die Ausstellung
 Die Niki-de-Saint-Phalle-Schau ist noch bis zum 21. Mai in der Kunsthalle Schirn (Römerberg/Frankfurt/Main zu sehen. Sie ist dienstags und freitags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr und mittwochs und donnerstags von 10 bis 22 Uhr geöffnet. Den kostenlosen Audioguide zur Ausstellungen spricht Sängerin Joy Denalane.